358 Ernst Beling, Strafrechtspflege.
seine Antipathien gegen ihn völlig auszuschalten; eine aus persönlicher Sympathie oder Anti-
pathie geborene Strafjustiz würde schwere Erschütterungen im Gefolge haben umsomehr, als jene
Gefühle häufig sehr individuell und selbst für den, der sie in sich trägt, schwer kontrollierbar sind.
Unzweifelhaft ist aber die weibliche Psyche viel weniger, als die männliche, imstande, in einer
konkreten Angelegenheit ein Urteil zu fällen, das von Liebe und Hass unbeeinflusst ist.
b. Der Gedanke, dass der zum Richten Berufene möglicherweise in einer konkreten einzelnen
Strafsache nicht völlig unparteiisch sein, oder doch der Schein fehlender Unparteilichkeit obwalten
kann, hat im geltenden Recht zu Bestimmungen geführt, kraft deren für die betr. Strafsache teils
„Ausschliessung vom Richteramt“‘, teils „Ablehnbarkeit“ eintritt. In dieser Hinsicht ist hier von
Interesse namentlich die Frage, ob und inwieweit eine etwa vorhandene politische oder konfessionelle
Gegensätzlichkeit zwischen Richter und Angeklagtem Berücksichtigung verdient. Unzweifelhaft
liegt in solcher Gegensätzlichkeit die Gefahr falscher, d. i. nicht objektiver Behandlung, zumal in
den Fällen, in denen die politische oder konfessionelle Grundanschauung des Richters auch bei
Würdigung der Tat (etwa als Beschimpfung religiöser Einrichtungen) mitsprechen kann. Gleich-
wohl kann die Tatsache, dass der Richter auf einem bestimmt ausgeprägten Standpunkte in kon-
fessioneller oder politischer Hinsicht steht, für sich allein nicht zu seiner Ausschaltung führen. Die
Konsequenzen einer solchen Bestimmung wären unübersehbar. Das Postulat würde am letzten
Ende darauf hinauslaufen, dass nur politisch und konfessionell ganz indifferente Richter mit der
Aburteilung betraut würden — und wie sollen solche gefunden werden? Auch kann der Schutz
gegen unstatthaften Subjektivismus in der Ausbildung des Richters (strenge Gewöhnung an Objek-
tivitöt) und in den Verfahrensbestimmungen gesucht und gefunden werden, die ihn nötigen,
seine Gedankengänge aufzudecken und ihre Kontrolle — auch durch die öffentliche Meinung —
zu ermöglichen. Freilich ist nicht zu verkennen, dass dem Laien richter gegenüber in diesen Be-
ziehungen eine gewisse Schutzlosigkeit besteht, da er weder zum Amte erzogen wird, noch in der
Weise wie der Berufsrichter seine Entscheidungen motivieren kann und zu motivieren braucht.
II. Das Rechtsschutzverfahren.
Man kann mit nur geringer Übertreibung sagen, dass, seitdem sich im 18. Jahrhundert die
allgemeine Aufmerksamkeit auf die Schäden des gemeinrechtlichen Inquisitionsprozesses gelenkt
hatte, der politische Liberalismus ständig der Träger aller Reformen gewesen und bis heute ge-
blieben ist. War ehedem das Verfahren in allem Wesentlichen nur gedacht als ein Vorgang zum
Schutze der Gesamtheit gegen das Verbrechertum — ne delicta maneant impunita —, so ist es
heute der Schutz des Individuums gegen die Staatsgewalt, der für den Ruf nach Reformen den
Grundton angibt: Schutz des Unschuldigen möglichst schon dagegen, dass ihm überhaupt ein
Strafprozess aufgenötigt wird, jedenfalls aber dagegen, dass er zu Unrecht gestraft wird; Schutz
auch des Schuldigen gegen unnötige und ungebührliche Leidenszufügung; Schutz Dritter vor
unnötiger und exzessiver Belästigung. Im Dienste dieser Idee hat sich der Strafprozess im 19. Jahr-
hundert reformiert zu einem Verfahren mit Anklageform und Staatsanwaltschaft, mit Mündlich-
keit, Unmittelbarkeit, freier Beweiswürdigung und Öffentlichkeit. Aber die rein negative Forde-
rung, dass für das Individuum eine Sphäre sichergestellt wird, vor der die Strafjustiz Halt zu machen
hat, kann, so zentrale Bedeutung sie auch hat, das Problem der Gestaltung des Verfahrens schon
deshalb nicht restlos lösen, weil sie für sich allein die Grenzen dieser Sphäre nicht umreisst. diese
sich vielmehr erst im Zusammenhalt aller Bedürfnisse mit einander bestimmen lassen. Allzuweite
Hinaussteckung dieser Grenzen käme auf eine Lahmlegung der Strafjustiz hinaus oder könnte
wenigstens unliebsame Verzögerung und Verteurung im Gefolge haben. So werden auf Schritt
und Tritt Interessenwägungen erforderlich. Übrigens treten die Ideale der möglichsten Treffsicher-
heit, der Promptheit und der Wohlfeilheit der Strafrechtspflege oft auch da herein, wo es sich nicht
oder nicht in erster Linie um die Frage der Ausgleichung der Gesamtheits- und der Individual-
interessen handelt. Für die Gesamtheit selbst ist namentl.ch das Bedürfnis der Prozessökonomie
zu betonen: Erreichung des Zweckes mit dem geringstmöglichen Aufwand an Zeit, Kräften und
Kosten. Dies um so mehr, als die Strafrechtspflege keine produktive Tätigkeit im wirtschaft-