364 Friedrich Oetker, Schwurgericht und Schöffengericht.
Richter bestimmt wird. Auch in Zivilprozessen entscheiden sehr häufig Geschworene. Das nord-
amerikanische Recht hat die englischen Institutionen beibehalten.
Die geschichtliche Wurzel der Urteilsjury ist der Inquisitionsbeweis, die Beweisführung durch das Zeug-
nis der Genossen, Nachbarn. an Stelle der formalen Beweismittel des Volksrechts. Von den Satzungen der nor-
mannisch-englischen Herrscher, „assisae‘, die zunächst auf zivilprozessualem Gebiete die neue Beweisart in den
ordentlichen Rechtsgang aufnahmen, hat sich dieser Ausdruck auf die so gestalteten Gerichte übertragen. Dann
erkannte die Magna Charta das Recht des Angeschuldigten an, sich—an Stelle der Reinigung durch Gottesurteil —
auf den Spruch der Nachbarn zu berufen. Die bald folgende Aufhebung der Gottesurteile (1219, mit Ausnahme
des Zweikampfes) erhöhte das Bedürfnis dieses Prozessaustrags. Der Richter vereidigt die Nachbarn auf wahr-
heitsgemässes Zeugnis aus eigenem Wissen über Schuld, Nichtschuld; daher heissen sie „Geschworene“, „jurs-
tores“, die Gruppe „jurata patriae“, „Jury“. Die Anwendbarkeit dieses Beweismittels schwand mit seinen so-
zialen Voraussetzungen, Nur auf primitiver Kulturstufe, bei unentwickelten Verkehrsverhältnissen, in einer sess-
haften, nicht dichten Bevölkerung kann Kunde vom Tun und Treiben des Einzelnen mit einiger Sicherheit bei den
Umwohnern erwartet werden. So musste sich mit der Zeit die eigene Information der Geschworenen als immer
mangelbafter erweisen. Daher trat in sehr allmäblicher Entwickelung an Stelle der Beweisführung durch Abhör
der Geschworenen die Beweiserhebung vor diesen. Das Verdikt wird aus einer Zougen-Aussa 6 über die Schuld
zu einem Urteil darüber auf Grund der Beweisergebnisse. Das Erfordernis der Nachbarschaft hatte nun jede Be-
deutung verloren (noch ausdrücklich beseitigt 1825).
Das Verdikt ist in älterer Zeit zwölfstimmiges, bei Nicht-Einigung der anfänglich Berufenen eventuell
durch Heranziehung weiterer Geschworenen erzieltes Gruppenzeugnis. Demnächst wandelt es sich in einen ein-
stimmigen Spruch der 12 Urteilsgeschworenen. Die Annahme höherer Vertrauenswürdigkeit des einstimmigen
Verdikts war nicht der Bestimmungsgrund für dieses Erfordernis, bat aber zu dessen Beibehaltung beigetragen
und seine Empfehlung (durch Rüttimann, Köstlin pp., in zum Teil seltsamer Begründung) und Nachahmung in
einigen deutschen Gesetzen (Braunschweig, Waldeck) veranlasst. Die schweren Bedenken liegen zutage: Be-
günstigung des Schuldigen, der nur einstimmig verurteilt, Benachteiligung des Unschuldigen, der nur einstimmig
freigesprochen werden kann; Justizverweigerung bei nicht gelöstem Zwiespalt; Sieg der hartnäckiger vertretenen
Sache mit dem Siege der bessern Sache nicht gleichbedeutend. Die Voraussetzungen, die in England die Ein-
stimmigkeit erträglich machen, die Abhängigkeit der Geschworenen von Boweisregeln nach richterlicher Be-
lehrung und die unbestrittene Autorität der riehterlichen Weisungen, sind einer Übertragung nicht fähig.
en Charakter eines Verteidigungsmittels hat der Geschworenenspruch in England insofern bis heute
behalten, als auf Geständnis, „Autoverdikt‘, hin der Richter obne Geschworene urteilt. Auch hierin sind einige
deutsche Gesetze dem englischen Vorbilde gefolgt (Württemberg 1849, Preussen pp.; so auch norweg. Ges. 22. 5.
1892 $ 21). Wunderliche pbilosophische Deduktionen (Köstlin) haben die geschichtliche Zufälligkeit innerlich zu
begründen versucht, während es doch Sache der Schuldbeurteilung, also des Richters der Schuldfrage sein muss,
die Glaubwürdigkeit des Geständnisses zu prüfen.
Von den Fällen der eummaries convictions abgesehen kommen in England alle Strafsachen vor Gesohworene.
Als die französische Revolution den völlig entarteten, geheimen schriftlichen Untersuchungs-
prozess beseitigte, wurde nach englischem Muster mit dem öffentlich-mündlichen Anklageprozess
auch die Jury in Frankreich eingeführt (Gesetze vom 16. bis 29. September 1791, code des delits
et des peines vom 3. Brumaire IV). Die Volkssouveränetät erheischte Volksrichter, und die Schrift-
steller der Aufklärungsperiode hatten seit Montesquieu die Jury gefordert. Als Anklagejury — eine
vom kontinentalen Rechte fast durchweg reprobierte Bildung — hatte sie freilich nur kurzen Be-
stand. Dagegen wurde die Urteilsjury mit Beschränkung auf erimes, Verbrechen im eng. $.. von
Napoleon I., code d’instr. criminelle v. 1808, beibehalten.
Mit dem französischen Recht kam die Urteils-Jury in die Rheinlande. Die Bewegung der
Jahre 1848 fg. hat dann — unter manchen Schwankungen — das Institut auf nahebei ganz Deutsch-
land erstreckt.!) Ausgenommen blieben schliesslich nur die wenigen Gebiete, die am gemeinrecht-
lichen Untersuchungsprozess festgehalten hatten (die beiden Mecklenburg, die beiden Lippe) und
trotz Einführung des reformierten Strafverfahrens Sachsen-Altenburg und Lübeck. In Österreich
hatte die Jury zunächst nur kurzen Bestand, bis die Prozessordnung v. 23. Mai 1873 sie als ordent-
liches Gericht wieder einführte.?2) Der Siegeslauf der Schwurgerichte in 1848 wurde ohne Zweifel
durch die Tatsache begünstigt, dass man eine andere Form der Laienbeteiligung damals nicht kannte,
indem die Form des Schöffengerichts erst nachher und sehr allmählich zur Ausbildung kam.
!) Verzeichnis der Gesetze bei Binding, Grundriss des Strafprozessrechte 5. Aufl. $ 10. Sammlungen (bis
1860) von Hüberlin und Sundelin.
?) Näheres bei Glaser, Handbuch des Strafprozesses I S. 182 fg., Ullmann, österr. Strafprozessreoht
8 321g.