8374 W. von Blunie, Bedeutung und Aufgaben der Parlamente. Parteienbildung.
einem Parlament im heutigen Sinne ähnliches bestehen — die Idee des Parlamentes ist
darin noch nicht enthalten. Von kaum einer Einrichtung aber gilt so unbestreitbar wie von
dieser das Iheringsche Wort, dass der „Zweck der Schöpfer ganzen Rechts“ ist. Zwar in
seiner Heimat, in England, hat sich das Parlament aus Einrichtungen des dualistischen
Feudalstaates, nicht ohne Kämpfe, aber doch in allmählicher Fort- und Umbildung entwickelt
und in den nordamerikanischen Freistaaten hat es sich in den Freiheitskriegen, die das
Bürgertum gegen das Mutterland zu führen hatte, wie selbstverständlich herausgebildet.
Aber auf dem europäischen Kontinente und wo immer seitdem Parlamente entstanden sind,
sind sie ganz und gar Geschöpfe zweckbewussten Wollens der Nationen, Verwirklichungen
der „parlamentarischen Idee“. Sie setzte in Frankreich und den ihm nachfolgenden Staaten
ein, als das ständische Wesen längst durch die absolute Staatsgewalt überwunden war und
setzte sich durch unter heftigen Erschütterungen und Umwälzungen. Verknüpfte sie sich so von
vornherein mit der monistischen Staatsauffassung, die jene Zeit beherrschte, so trug sie
doch zugleich einen neuen Dualismus in das Staatsleben hinein, indem sie das Parlament
der Regierung als Feind gegenüberstellte.
Die Umstände, unter denen ein Staat sich entwickelt hat, wirken aber nicht nur in
seinen Einrichtungen nach, sie beherrschen auch die Vorstellungen, mit denen Staatslenker
und Staatsbürger diesen Einrichtungen gegenübertreten, noch auf lange Zeit hinaus. Ob
eine Staatseinrichtung sich bewährt, das richtet sich in erster Linie nicht danach, wie sie
gestaltet ist, sondern danach, in welchem Masse sie Verständnis und Vertrauen bei denen
findet, die sie zu gebrauchen haben. Es iet das Schicksal des Parlamentarismus in den
kontinentalen Staaten geworden, dass er in ihr Staatsrecht aufgenommen wurde zu einer
Zeit, wo man an ein absolut richtiges Recht glaubte und vermeinte, Staaten in der Retorte
herstellen zu können. Und so wurde die Geschichte des Parlamentarismus, seit er vom
heimatlichen Boden Englands wegverpflanzt war, der Kampf einer „Idee“ mit historisch-
gegründeten Mächten, ein Kampf, der in Deutschland noch heute nicht ausgekämpft ist.
Will man den Inhalt dieser Idee feststellen, so wird man sich nicht an die Ausprägung
halten dürfen, die sie in dem Staatsrecht des einen oder des anderen Staates erfahren hat.
Man kann nicht ohne weiteres behaupten, dass der parlamentarische Gedanke nur in den
Staaten mit Parlamentsherrschaft vollständig verwirklicht sci und in solchen, die dem
Parlament nicht die herrschende Stellung einräumen, einen unzulänglichen Ausdruck gefunden
habe. Denn es fragt sich, ob nicht aus der Staatsverfassung der parlamentarisch regierten
und der der monarchisch-konstitutionell regierten Staaten ein einheitlicher Gedanke gefunden
werden könne, der als „parlamentarische Idee“ bezeichnet werden darf.
Fast überall, wo Parlamente geschaffen wurden, verknüpfte sich mit ihrer Begründung
der Gedanke der „Repräsentation. Heissen doch die Abgeordneten der Vereinigten Staaten
von Amerika geradezu „representatives“, die Belgiens „repr&sentants. Die Bezeichnung
„Volksvertretung“ scheint das Wesen des Parlaments erschöpfend wiederzugeben, so dass
es nur allenfalls noch der Frage bedürfte, welche Stellung dieser Volksvertretung im Staate
zukommt und zukommen soll.
Indessen liegt die Sache so einfach nicht.
Wer ist das „Volk“, das vom Parlament vertreten wird? Soll es die Menge der
Einzelnen sein, die jeweilig einem Staate angehören? So, dass das Volk heute ein anderes
wäre als es gestern war und morgen sein wird? Wie wäre dann aber denkbar, dass diese
Einzelnen vom Parlament vertreten würden, da doch jedes Parlamentsmitglied alle Einzelnen
zu vertreten hätte! Käme mithin als staatsrechtlich vertretbar nur das organisierte Volk,
die Volksgemeinschaft in Betracht. Aber damit gewinnt der Begriff der „Volksvertretung“*
einen anderen Sinn, als ihm die landläufige Sprachweise beilegt. Denn das organisierte
Volk ist im Grunde nichts anderes als der Staat selbst. Gegen die Meinung, dass das
Parlament für den Staat als dessen „Organ“ beschliesse, wäre staatsrechtlich nichts einzu-
wenden. Nur ist es in dieser Bezichung vom Monarchen nicht wesentlich verschieden.
Haben doch gerade die bedeutendsten Persönlichkeiten der absoluten Monarchie, Ludwig XIV.