376 W. v. Blume, Redeutung und Aufgabe der Parlamente. Parteibildung.
einen Ausschuss der Bürgerschaft als Organ des Staates zu bestellen und allenfalls für beson-
ders schwerwiegende Entscheidungen die „Urabstimmung“ (das „Referendum“ vorzubehalten.
Der Einfluss, den der parlamentarische Gedanke auf die Geschicke der Völker gehabt
hat, die Rechtsform, in der er verwirklicht wurde, war selbstverständlich verschieden je nach
dem Boden, auf den er fiel. Während in einigen Staaten das Parlament zur Herrschaft
gelanet ist, hat es sich in anderen Staaten mit einer bescheideneren Rolle begnügen müssen.
so, dass man die Staaten mit parlamentarischem System in parlamentarisch- und
monarchisch-konstitutionell-regierte scheiden kann. Aber nur eine Staats-
theorie, die das Erbe der Doktrinäre des 18. Jahrhunderts sine beneficio inventarii ange-
treten hat, kann vermeinen, in der einen oder der anderen Staatsform das „an sich richtige“
System erblicken zu müssen. Lässt sich zugunsten des englischen Parlamentarismus an-
führen, dass er den Dualismus des Beamtentums und des Bürgertums in einer höheren
Einheit auflöst, so ist auf der anderen Seite leicht zu sehen, dass ein Parlament, das die
Ernennung der Beamten entscheidend beeinflusst, weniger zu ihrer Kontrolle geeignet ist als
ein Parlament, das nur Kontrollorgan ist.
Im übrigen handelt es sich bei der Staatenbildung nicht um Kunst-Produkte, sondern
um Ergebnisse des Ringens sozialer Kräfte, die sich unter dem Einfluss von Land, Ab-
stammung und Nachbarschaft gebildet haben. So muss denn das Bild des Parlamentarismus
in England notwendig ein ganz anderes sein als in Deutschland.
Man wird, um die Staatsform, in der das Parlament zur Geltung kommt, politisch
beurteilen zu können, nicht eine staatsrechtliche Konstruktion verwenden dürfen, die mit
dem Begriffe der „höchsten Gewalt“ operiert. Ist doch in England — wenigstens nach der
in der deutschen Staatsrechtlehre überwiezenden Auffassung — Träger der höchsten Gewalt
immer noch der König, obwohl der Wille des Parlaments durchaus den Staat beherrscht.
Man wird, um die in einem Staate wirksamen Kräfte richtig einzuschätzen, unterscheiden
müssen zwischen dem gesetzten Rechte und der tatsächlichen Uebung, welch’ letztere sich
als Gewohnheitsrecht niederschlägt, wenn sie ein Menschenalter überdauert hat. Oder ist
das Recht des englischen Königs, die Minister zu ernennen, ist sein Recht des „assent“ zu
Parlamentsbeschlüssen — das fälschlich sogenannte „Vetorecht“ — heute mehr als ein „nudum
jus“, ein Recht zu handeln ohne das Recht der Enntschliessung? Wohl ist der Knie für
die englische Staatsmaschine unentbehrlich; — hat man doch eben deshalb seinerzeit Karl II.
zurückberufen — aber ebenso unentbehrlich ist der Wollsack und die Perücke des Sprechers.
Mögen nun auch die dem Könige verbliebenen Rechte einem klugen und tatkräftigen Monarchen
immer noch Gelegenheit zur Entfaltung eines grossen Einflusses geben — dass der eigent-
liche Herrscher Gross-Britanniens das Parlament, und zwar seit der Veto-Bill das Unter-
haus ist, wird nicht wohl bestritten werden können; dass dieser Herrscher von der Wähler-
schaft bestellt wird, macht seine Schwüche aus, und dass der König ihn entlassen kann,
indem er das Parlament auflöst und an die Wählerschaft appelliert, scheint die Stärke des
Königtums zu sein.
Aber die diese Entlassung herbeiführen, sind in Wahrheit die Minister, und ihre Partei
ist es, auf deren Stärke sie dabei rechnen. So erscheint über dem Parlament als letzte
kontrollierende Instanz das Volk, richtiger: die Wüählerschaft, noch richtiger: die Partei.
Bei der Betrachtung des Parteiwesens wird diese Erkenntnis noch zu verwerten sein.
Was Deutschland betrifft, so ist im Reiche schon deshalb eine parlamentarische
Regierung von Staatsrechts wegen unmöglich, weil sie die Grundlagen des Reiches vernichten
würde. Denn ein vom Parlament regiertes Reich würde ein Einheitsstaat sein; der födera-
tive Charakter des Reichs fordert, dass die „verbündeten Regierungen“ die Leitung des
Staates behalten.
Es kommt hinzu, dass Bismarcks Staatskunst in die Verfassunz noch eine zweite
Sicherung einfügte, indem er den Reichskanzler nur als preussischen Bevollmächtigten im
Bundesrat teilnehmen lässt — neben dem föderalistischen ein partikularistisches Hindernis
einer Parlamentregieruug.