Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

W. von Blume, Bedeutung und Aufgaben der Parlamente. Parteibildung. 377 
  
In den deutschen Einzelstaaten aber, zumal in Preussen, haben die Monarchie und das 
von ihr geschaffene Beamtentum ihre Fähigkeit zur Regierung in schwierigen Zeiten so 
überzeugend erwiesen, dass der Wunsch nach einer parlamentarischen Regierung zwar nicht 
geschwunden, aber erheblich abgeschwächt worden ist. Hierzu hat zweifellos die Erkenntnis 
beigetragen, dass in manchen parlamentarisch-regierten Staaten Günstlingswesen, Bestechlich- 
keit und Missbrauch der Amtsgewalt einen Unifang angenommen haben, der die verderb- 
lichen Wirkungen absolutistischer Regierungen in jeder Hinsicht erreicht. Sind es hier die 
Höflinge, so sind es dort die Parlamentarier selber, die an der Korruption teilnehmen, und 
die Beamtenschaft ist in den Staaten mit hochentwickelter Parlamentsherrschaft so wenig 
gegen Bestechlichkeit gefeit wie in den Despotieen des Orients. Ja, das Parlament wird 
möglicherweise ebenso von der Beamtenschaft beherrscht wie ein unfähiger Monarch — ist 
doch der Ausgang der Wahlen stets auch von der Gunst der Beamten abhängig. Und 
„eine Hand wäscht die andere“; auch in der Politik. 
Zugunsten der konstitutionellen Verfassung, die das Parlament an der Regierung teil- 
nehmen, aber nicht schlechthin regieren lässt, spricht in erster Linie der Umstand, dass bei 
dieser Verfassung die wichtigste Funktion des Parlaments: die einer Kontrolle der Regierung 
unzweifelhaft am besten zur Geltung komnit. Dies bedarf noch einer genaueren Betrachtung. 
Gegen den Gedanken des Parlamentarismus sind mancherlei Bedenken erhoben worden. 
Sie richten sich zunächst gegen seinen ersten Bestandteil, der, wie wir feststellten, die Wahl 
zum Parlament als Ausdruck des Willens der Wählerschaft betrachtet. Auch, wenn man den ver- 
geblichen Versuch aufgibt, in der Wahl zum Parlament den „Willen des Volkes“ finden 
zu wollen, bleibt doch unbestreitbar, dass diese Wahl nur unvollkommen sich eignet, den 
Willen der Wählerschaft zu bekunden. 
Zunächst ist ein Mangel, dass nicht die gesamte Wählerschaft zu Worte kommt, da 
ja stets von ihr ein Teil sich der Wahl enthält. Dem könnte man entgegnen, dass, wer 
nicht wählt, nicht zähle. Aber weiter ist zu berücksichtigen, dass immer nur die Mehrheit 
zur Geltung kommt. Und wendet man gegen dies Bedenken ein, dass doch der Wille einer 
Vielheit immer nur ein Mehrheitswille sein könne, so bleibt jedenfalls unbestreitbar, dass 
infolge der Gruppierung, die die Wählerschaft zu Wahlzwecken erfahren muss, bei jedem 
Wahlsystem eine Minderheit künstlich in eine Mebrbeit verwandelt werden kann. Vor allem 
aber: der Wille dieser Wählerschaft wird ja nicht erzeugt durch Austausch der Gedanken 
unter denen, die an der Willensbildung teilnelmen, sondern er wird in Wählergruppen er- 
zeugt. Je nach der Vorbereitung der Wahl und nach den äusseren Umständen, unter denen 
sie sich vollzieht, ist daher die Entschliessung der Wähler an den verschiedenen Orten ganz 
verschiedenen Einflüssen ausgesetzt. Es fehlt der Willensbildung ganz und gar die Einheit- 
lichkeit, die bei einer Urabstimmung in der Volksversammlung eines kleinen Staates durch 
die Einheit der Handlung gewährleistet ist. Man kommt mithin, wenn man in der Wahl 
des Parlaments eine Willenskundgebung der Wählerschaft sehen will, ohne Fiktionen 
nicht aus. 
Indessen wird man dem parlamentarischen Gedanken nicht gerecht, wenn man die 
Funktionen des Parlamentes nicht berücksichtigt. Das Parlament soll als Ausschuss der 
Bürgerschaft des Staates an der Bildung des Staatswillens teilnehmen. Das ist der zweite 
Bestandteil des parlamentarischen Gedankens. Für eine Staatsauffassung, die nicht vom 
Einzelnen sondern vom Gemeinwesen ausgeht, wird die Richtigkeit dieses Gedankens nicht 
durch den Hinweis auf die „natürlichen Rechte“, noch auch durch eine Aufzählung der 
Leistungen des Einzelnen nachgewiesen werden können, sondern lediglich durch eine Prüfung 
der Vorteile, die dem Gemeinwesen aus der Einrichtung erwachsen. 
Zwei Aufgaben des Parlaments wird man dabei in den Vordergrund stellen müssen: 
1. Das Parlament ist die Stelle, wo die gemeinsamen Interessen 
aller Staatsbürger zur Geltung, die einander entgegenstehenden zum 
Ausgleich kommen sollen. Man hat wohl, um die Mängel der Einrichtung des
	        
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