378 W. von Blume, Bedeutung und Aufgaben der Parlamente. Parteibildung.
Parlamentes darzutun, die Unmöglichkeit betont, dass das Parlament die Interessen des
gesamten Volkes wahrnehme. Aber derartiges wird im Ernste auch vom Parlament gar
nicht verlangt. Nur, dass das Parlament dem Gemeinwohl diene, ist die Forderung. Dass
es ein Gemeinwohl gibt, ist nicht zu leugnen, da es einen Staat gibt. Nur ergibt es sich nicht
dadurch, dass die einander widerstreitenden Einzelinteressen wahrgenommen, sondern dadurch,
dass sie ausgeglichen werden, so zwar, dass der Einzelne, was er opfert, vergütet sieht durch
die Möglichkeit des Lebens in der Gemeinschaft. Dass dieser Ausgleich nicht ohne Kampf
stattfindet, liegt in der Mangelhaftigkeit menschlicher Einsicht begründet. Endet er mit der
Unterdrückung der einen Partei, so entspricht dies nicht dem Grundgedanken des Rechts,
sondern lediglich dem kurzsichtigen Egoismus. Auch das Parlament ist von Eigennutz und
Machtgelüsten nicht frei. Aber, dass die Art seiner Bestellung den Ausgleich hindert, statt
ihn zu fördern, wird man nicht behaupten können. Mag der Parlamentarismus Fehlerquellen
aufweisen — der Gedanke, einen Ausschuss der Bürgerschaft an der Staatslenkung teil-
nehmen zu lassen, ist so alt wie die europäische Kultur und wird sich behaupten, so lange
diese besteht.
Ja, er muss um so mehr an Kraft gewinnen, je schwieriger die Staatsaufgaben werden
und je mehr das technisch-durchgebildete Beamtenheer wächst, dessen es zu ihrer Erledigung
bedarf. Der Absolutismus des Beamtentums ist fast eine grössere Gefahr als der Absolutismus
des Monarchen. Ihm zu begegnen ist 2. die Hauptaufgabe des Parlaments: es
ist die Kontrollinstanz für die Bureaukratie.
Es „vertritt“ in dieser Hinsicht das Volk insofern, als es eine Funktion übernommen
bat, die in kleineren Staaten das Volk, d. h. die Versammlung der Bürgerschaft, selbst aus-
zuüben in der Lage ist. Das Parlament aber wird seinerseits wieder durch die wahl-
berechtigte Bürgerschaft kontrolliert, die allerdings ihr Kontrollrecht eben nur in der unvoll-
kommenen Form der Parlamentswahl zur Geltung bringen kann.
Mannigfaltig sind die Formeu, in denen der Gedanke der Kontrolle des Beamtentums
durch ausgewählte Bürger verwirklicht werden kann. Als eine unvollkommene Form muss
heute die Verteilung der Aufgabe des Befehlens zwischen Beamte und Bürger betrachtet
werden, wie sie sich in den Geschworenengerichten erhalten hat. Sie wird allmählich verdrängt
von einer anderen Form, die Deutschland beispielsweise in den Schöffengerichten und ın
verschiedenen Verwaltungsbehörden zeigt: die Bildung eines aus Beamten und Bürgern
zusammengesetzten Kollegiums. Wo aber die Aufgabe des Befehlens Einzelnen anvertraut
werden muss, da ist die kontrollierende Beteiligung der Bürgerschaft nur in der Weise
möglich, dass eine besondere Kontrollorganisation geschaffen wird: das Parlament.
Die Montesquieu’sche Lehre von der Gewaltenteilung, die eine Verteilung der gesetz-
gebenden, der ausführenden und der richterlichen Gewalt auf verschiedene Organe forderte,
hat bekanntlich dazu geführt, die Kontrolle des Parlaments auf die Gesetzgebung zu be-
schränken, so zwar, dass in der französischen Verfassung von 1791 die Assemblee nationale
geradezu „Corps legislatif“ genannt wird und diese Bezeichnung in die meisten der von ihr
ausgehenden Verfassungen übergegangen ist. Dem lag unzweifelhaft ein staatsrechtlicher
Irrtum zugrunde; denn das englische Parlament war und ist keineswegs auf die Gesetzgebung
beschränkt. Aber es handelt sich auch um einen gefährlichen politischen Irrtum. Denn,
weder ist mit der Uebertragung der „Legislative“ eine scharfe Abgrenzung der Funktionen
des Parlaments gegenüber denen der übrigen Staatsorgane gegeben, noch ist die eigentliche
Aufgabe des Parlaments: die Kontrolle der Regierung dadurch irgendwie gekennzeichnet.
Die Folge des ersten Mangel» war, dass die Verfassungen sich genötigt sahen, ausdrücklich
festzustellen, dass Steuern nur im Wege der Gesetzgebung bewilligt werden können und das
Budget jährlich durch Gesetz festzustellen ist, womit die Grenze zwar verbessert aber immer
noch nicht unbestreitbar gemacht wurde. Auf der anderen Seite hat der Gedanke, dass das
Parlament Regierungskontrolle sein solle, zwar in einzelnen Verfassungen dadurch Ausdruck
gefunden, dass ihm das Recht der „Enqu£&te“ verliehen wurde (Belgische Verfassung Art. 40;
Preussische Verfassung, Art. 82); aber ein solches Recht ist ziemlich wertlos, wenn ihm