380 W. von Blume, Bedeutung und Aufgaben der Parlamente. Parteibildung.
das Wahlrecht bestimmt. Wird dieses demokratischer, so bedeutet das nur eine Veränderung
der Machtverteilung innerhalb der Wählerschaft, nicht ihres rechtlichen Einflusses. Wohl
aber wird die Macht der Wählerschaft durch eine Abkürzung der Wahlperioden gemehrt,
durch eine Verlängerung gemindert; sie wird ferner gesteigert durch imperatives Mandat,
geschwächt dadurch, dass die Entschliessung den Abgeordneten freigegeben wird. In diesen
Beziehungen hat sich in neuerer Zeit das Verhältnis eher zugunsten des Parlamentes ver-
schoben. Dagegen bedeutet es allerdings eine erhebliche Minderung der rechtlichen Stellung
des Parlaments, wenn die Verfassungen dazu übergehen, die Urabstimmung (das Referendum)
als Mittel zur Bildung des Staatswillens aufzunehmen. So konnte die konservative Partei
in England auf den Gedanken kommen, die Einführung des Referendums vorzuschlagen, um
dadurch den Machtzuwachs des Unterhauses auszugleichen. Obwohl dieser politische Schachzug
in England einstweilen noch keine Ergebnisse gehabt hat, wird doch gesagt werden dürfen,
dass der Gedanke der unmittelbaren Beschlussfassung der Bürgerschaft den demokratisierenden
Tendenzen der Zeit entspricht, und dass von dieser Seite dem parlamentarischen Gedanken
eine nicht geringe Gefahr droht.
Bedeutsamer als die etwaige Möglichkeit einer Schwächung der rechtlichen Macht des
Parlaments gegenüber der Wählerschaft ist die unbestreitbare Tatsache, dass der tatsächliche
Einfluss, den das Parlament auf die Bildung der Volksstimmung ausübt, das Ansehen, das
es in der öffentlichen Meinung geniesst, in-neuerer Zeit zu sinken begonnen hat. Nach dieser
Richtung hat zunächst die Entwicklung des Zeitungswesens einen Einfluss geübt. Ist dieses
eine „Grossmacht“ im öffentlichen Leben geworden, so hat es dadurch die Machtstellung
des Parlamentes notwendig vermindert — was einst durch die Vermittlung des Parlaments
am sichersten und nachdrücklichsten zur Geltung gebracht wurde, wird heute ebensogut, ja
besser durch die Zeitung denen vorgehalten, die es angeht. Aber, auch wenn man vom
Einfluss des Zeitungswesens absicht, bleibt noch genug, was dem Ansehen des Parlamentes
abträglich ist.
Unvermeidlich war ja, dass die überschwenglichen Hoffnungen, die man bei der Geburt
der Volksvertretungen für ihre Zukunft hegte, im Laufe der Zeit bedeutend herabgedrückt
wurden. Die Erkenntnis, dass nicht die Staats-Einrichtung an sich, sondern die Art, wie
sie gebraucht wird, für das Glück der Völker entscheidend ist, musste notwendig die Meinung
derer ablösen, die von einer Aenderung der Gesetzgebung alles erwarteten. Andererseits
hat man eingeschen, dass nicht nur die Zwangs-Organisation des Staates, sondern auch frei-
willig gebildete Verbände von allerlei Art an der Gestaltung des sozialen Lebens mitzuwirken
haben und bei nicht wenigen hat diese Einsicht zu einer Nichtachtung des staatlichen und
damit auch des parlamentarischen Wirkens geführt.
Aber es handelt sich doch wohl um mehr als um eine blosse Ernüchterung der Ver-
ehrer des parlamentarischen Gedankens; es scheint sich vielinehr eine tiefgehende Unzufrieden-
heit mit dem Wirken der Parlamente herauszubilden. Und zwar eine Unzufriedenheit, die
ganz ebenso in parlamentarisch regierten Demokratien wie in konstitutionellen Monarchien,
in Staaten mit allgemeinem gleichem wie in solchen mit beschränktem Wahlrecht sich geltend
macht, also weder auf Ohnmacht des Parlaments gegenüber dem anderen Faktor der Re-
gierung noch auf den Mangel einer volkstümlichen Basis des Parlaments zurückgeführt werden
kann. Vielmehr dürften andere ungünstige Umstände sich vereinigen, um das Bild des
Parlamentarismus zu entstellen.
Vor allem: man wirft den Parlamenten Mangel an Würde und Mangel an Pflichtgefühl
vor. Beides nicht ganz mit Unrecht. Es lohat sich wohl, den Ursachen dieser Erscheinung
nachzugehen und zu prüfen, ob Mittel zur Abhilfe gegeben sind. Was zunächst das äussere
Gebaren des Parlamentes und der Parlamentarier betrifft, so muss es notwendig auf die
ormen, in denen der Verkehr in einem Kollegium sich bewegt, ungünstig wirken, wenn
die Mitglieder den verschiedensten Gesellschafts- und Bildungsschichten entstammen. Ein
wahrhaft gedeihliches Zusammenwirken ist nur bei unbedingter gegenseitiger Achtung möglich.
So lange nun das gesellschaftliche Leben nicht demokratisiert ist — und davon ist es, in