Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

W. von Blume, Bedeutung und Aufgaben der Parlamente. Parteibildung. 383 
  
Partei einst zusammenführte, auch dauernd den Zusammenhalt begründen müsste. Die 
beiden grossen Parteien Englands unterscheiden sich nicht eigentlich durch ihr Programın, 
sondern durch ihren Ursprung aus den beiden grossen Adelsparteien der Tories und Whigs, 
die ihrerseits auf kirchliche Gegensätze zurückführen. Möge nun auch in der einen heute 
konservative, in der anderen liberale Elemente überwiegen, mag dort der Gedanke der 
Weltmacht, hier der des Weltfriedens stärker betont werden — in der Hauptsache handelt 
es sich doch jetzt wohl um Parteien, die da sind, weil sie da waren, um historische 
Parteien. Noch ausgeprägter zeigt sich dieser Charakter bei den Parteien der nord- 
amerikanischen Union; sie werden heute nur durch den Trieb nach Macht zusammengehalten 
und müssen sich jeweils für die Wahlen erst ein Programm in einer „platform“ schaffen, die 
heute so und morgen so lauten kann. 
Das Land der Programm-Parteien ist Deutschland. Fordert der Engländer 
Treue gegen die Partei, so dass er kanm begreift, wie jemand seine Partei wechseln kann 
nur, weil er seine Ansichten gewechselt hat, so fordert der Deutsche Prinzipientreue von 
der Partei und verlässt sie, sobald er meint, dass sie ihren Prinzipien untreu geworden sei, 
oder, wenn seine Ueberzeugungen sich auch nur um ein geringes von ihrem Programm ent- 
fernen. Die Folge ist in Deutschland eine Zerrissenheit des Parteiwesens, wie sie in Eng- 
land nur durch eine Zertrümmerung der historischen Parteien herbeigeführt werden könnte, 
die einer Revolution gleichkommen würde. Die Eigenart des deutschen Parteiwesens ist 
nicht selten mit der Kleinstaaterei verglichen worden. Aber es handelt sich bei der Partei- 
zersplitterung doch um mehr als eine blosse Absonderungslust oder, wenn man so will, 
Eigenbrödelei. Es handelt sich auch um eine Wirkung der deutschen Gründlichkeit und 
des deutschen Idealismus, der von Gedanken ausgehend die Wirklichkeit zu gestalten 
sucht. Mag immerhin die Schwäche des deutschen ÖOrganisationstalentes sich auch darin 
offenbaren — es soll doch nicht vergessen werden, dass das deutsche Parteiwesen auf den 
Kräften beruht, die den preussischen Staat und damit Deutschland neu schufen, als der 
absolute Staat Baukerott gemacht hatte. Und schliesslich sollte auch darüber kein Zweifel 
sein, dass in der politischen Idee eine einigende Kraft liegt, die gesellschaftliche und wirt- 
schaftliche Gegensätze überwindet und, wenn die Meinungen genügend geklärt sind, zu einer 
Bildung grosser Parteien da führen kann, wo die Interessen eine Absonderung zu bedingen 
scheinen. . 
Man hat versucht, alle Parteiung zurückzuführen auf die Gegensätze „konservativ“ und 
„liberal“, indem man in dem einen Begriffe die Idee der „Autorität“ mit der Charaktereigen- 
schaft der Beständigkeit suchte, in dem anderen Wort die Idee der „Freiheit“ mit der Eigen- 
schaft der Veränderlichkeit verband. Indessen dürfte Treitschke (Historische und politische 
Aufsätze III, 584 p.) darin beizustimmen sein, dass diese Versuche der Vereinfachung nicht 
geglückt sind. Wohl lassen sich in Deutschland zwei grosse Strömungen unterscheiden, die 
auf die angegebene Art leidlich bezeichnet werden. Aber, weder ist der Gegensatz von 
Macht und Freiheit ein derart absoluter, dass er eine Vereinigung beider Gedanken aus- 
echlösse, noch ist es im Wesen des Freiheitsgedankens begründet, dass er sich mit Ver- 
änderlichkeit des politischen Wollens verbinden müsste. 
Es ist aber auch nicht angängig, den Gegensatz der Parteien auf staatsrechtliche 
Gedanken und staatsrechtliches Wollen allein zu gründen. Neben die im engeren Sinne 
„politischen“ Ideen treten die religiösen oder, allgemeiner gesprochen, die Kultur-Ideen. 
eben die Ideen aber, mit ihnen sich mengend und kreuzend, stellen sich völkische, gesell- 
schaftliche und wirtschaftliche Interessen. 
Dies bedarf noch einer besonderen Betrachtung. Bekanntlich sucht die materialistische 
Geschichtsauffassung alles politische Geschehen auf die Entwicklung der wirtschaftlichen Bedürf- 
nisse zurückzuführen. Wie die Geschichte der Staaten so widerlegt die Geschichte der 
Parteien diese Anschauung auf jeder Seite ihrer Aufzeichnungen. Unrichtig ist schon, dass 
die gesellschaftlichen oder „Klassen“-Interessen sich notwendig mit wirtschaftlichen Gruppen- 
Interessen decken; denn es ist schwerlich zu bestreiten, dass die volkswirtschaftlichen
	        
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