392 Adalbert Wahl, Geschichte dbs Parlamentarismus in Frankreich.
entstanden. Seitdem die Lords auch in einer solchen Frage im Jahre 1860 noch einmal eine selb-
ständige Stellung eingenommen hatten, wurde es üblich, das gesamte Budget eines Jahres zu einer
einzigen Vorlage zu formulieren, die dann. mente man, vom Oberhause "notwendigerweise ange-
nommen werden müsse. Allerdings galt dabei die Voraussetzung, dass diese Vorlagen auch nur
Finanzfragen, nicht aber andere Gegenstände der Gesetzgebung enthalten sollten. Das sogenannte
„tacking’‘ war verpönt.
Aus dieser Frage ergab sich der gewaltige Streit zwischen den beiden Häusern, der im Jahre
1911 zu vorläufigem Abschlusse gekommen ist. Die Lords unterfingen sich, das Budget des Jahres
1909 abzulehnen. In den darin enthaltenen neuen Besteuerungsmethoden, welche in das soziale
Leben der Nation tief eingriffen, erblickten sie das ungeheuerlichste Beispiel des tacking, das die
Geschichte kenne. Der darüber entbrannte Streit zeitigte die Parlamentsbill des Jahres 1911, welche
dem Oberhause nicht nur alles Recht in Finanzfragen abschnitt, sondern ihm für jegliche Gesetz-
gebung nur noch ein aufschiebendes Veto beliess. Zum Gesetz ist diese Vorlage nur dadurch ge-
worden, dass die Regierung die königliche Prärogative anrief und einen ungeheuren Pairsschub an-
kündigte, falls die Lords die Vorlage nicht in allen Hauptpunkten unverändert annähmen. Die
Zukunft wird lehren, ob es bei diesem Sturze der oberen Kammer sein Bewenden haben wird, oder
ob die Konservativen, wenn sie von neuem zur Regierung gelangt sind, das Haus der Lords, wie
sie schon erklären, in seine althistorischen Rechte wieder einsetzen werden.
b) Geschichte des Parlamentarismus in Frankreich.
Von
Dr. Adalbert Wahl,
o. Professor der Geschichte an der Universität Tübingen.
Literatur:
F.A.H lie, Les Constitutions de la France, Paris 1880.—A. Aulard, Histoire Politique de la R&volution
Eransaiso (1789—1804) Paris 1901 und öfters. — A. Fournier, Napoleon I.,3 B. 2. Aufl. Wien 1904ff.— Karl
illebrand, Geschichte Frankreichs von der’Thronbesteigung Louis- -Philippes bis zum Falle Napoleons III. 2B.
Gotha 1877—1879 (führt nur bis 1848, enthält aber eine ausführliche Einleitung über die Zeit von 1815—1830). —
smile Ollivier. ’Empire liberal B. 1—17. Paris 1894ff. — G.Hanotaux, Histoire de la France contem-
poraine (1871-1900) bisher 4 B. Paris 1904ff.— TheCambrid ge Modern History B. 8—12. Cambridge 1904£f.
. ‚ Frankreich. Land und Staat. Heidelberg 1910.
„Parlamente“ hat es in Frankreich schon seit dem Mittelalter gegeben. Allein die Körper-
schaften, die so genannt wurden, waren die obersten Gerichtshöfe der Landschaften oder
früheren Staaten, aus denen sich das Königreich zusammensetzte. Freilich haben diese Gerichtshöfe
vielfach, und zwar besonders im 18. Jahrhundert, eine eigentümliche Rolle gespielt, welche der von
Parlamenten im modernen Sinne nicht unähnlich war. Durch die Weigerung, neue Gesetze, vor allem
auch Finanzgesetze, in ihre Registerbände einzutragen, — wodurch nach ihrer Ansicht allein dem
Gesetze Gültigkeit verliehen wurde, — haben sie vielfach hemmend auf die allgemeine legislatorische,
die finanzielle, ja die auswärtige Politik des Staates eingewirkt; durch ihre weit verbreiteten und
wirkungsvollen Kundgebungen liessen sie der Regierung eine lebendige Kritik zukommen, welche
hinter der moderner Volksvertretungen an Heftigkeit keineswegs zurückbleibt, an Sachkenntnis sie
aber weit übertrifft. Auch hatten sie ein Staatsrecht für Frankreich konstruiert, wonach es eine
Verfassung und unverletzliche Grundgesetze des Königreichs gab, deren alleinige Hüter und
Interpreten die Parlamente seien, eine Auffassung, die sogar von der Monarchie keineswegs radikal
abgelehnt wurde. Bei allen diesen Auffassungen und Einrichtungen — so wichtig sie für die Ge-
schichte Frankreichs und vor allem die Vorgeschichte der Revolution sind — handelt es sich nun