Adalbert Wahl, Geschichte des Parlamentarismus in Frankreich. 393
aber ebensowenig, wie bei der gelegentlichen Beschränkung der Monarchie in Zeiten der Schwäche
durch die Generalstände bis 1614, um einen Parlamentarismus im modernen Sinne, der
vielmehr erst 1789 seinen Anfang nimmt.
Mit der Französischen Revolution setzt in Frankreich auch auf dem Gebiete des Parlamen-
tarismus eine Reihe von Experimenten ein, welche erst unter der dritten Republik durch einiger-
massen befestigte Zustände abgelöst wurden. In nicht weniger als 7 Abschnitte muss infolgedessen
die 125jährige Geschichte des Französischen Parlamentarismus zerlegt werden, innerhalb deren sich
meist eine kräftige Entwicklung zeigt, die aber im ganzen durchaus keine stetige Weiterbildung
darstellen: 1. Die Französische Revolution 1789—1799. 2. Napoleon I. — 1815. 3. Die legitimen
Bourbonen — 1830. 4. Louis-Philippe — 1848. 5. Die zweite Republik — 1851. 6. Napoleon III. —
1870. 7. Die dritte Republik.
Innerhalb der Geschichte des Parlamentarismus der FranzösischenRevolution
ist zu unterscheiden zwischen den Zeiten der Konstituante, denen der Legislative, des Konvents
und der Direktorialverfassung. Alle vier Zeitabschnitte aber haben das Gemeinsame, dass sie eine
ausserordentlich hohe Bedeutung und Machtfülle des Parlaments darstellen. Die beiden für die Ein-
führung des Parlamentarismus in Frankreich massgebenden Ideen waren die der Gewaltenteilung
(Montesquieu) und die der Volkssouveränität (Rousseau). Theoretisch schon waren diese beiden
Prinzipien schwer zu vereinigen ; man half sich mit der Auffassung, dass zwar im Staat eund seiner
Verfassung das Volk souverän sei, dass aber in der Regierung — die nur auf einem
Mandat des Volkes beruhe — Gewaltenteilung zwischen der gesetzgebenden und der ausführenden
Gewalt, beiden Vertretern des Volkes, herrsche. Praktisch gestaltete sich aber das Verhältnis
naturgemäss so, dass nur das Parlament als Vertreter des souveränen Volks aufgefasst wurde. Dem-
gemäss wurde die Bedeutung der ausführenden Gewalt — d. h. der Monarchie in der Zeit der Kon-
stituante und der Legislative, der Ministerien unter dem Konvent — nahezu auf nichts reduziert,
während allerdings unter der Direktorialverfassung mit der Gewaltenteilung schon eher Ernst
gemacht wurde, und also die Bedeutung des Direktoriums sehr erheblich war. Allerdings sind auch
einige Verstösse gegen das Prinzip der Volkssouveränität von seiten der gerade im Besitz der Macht
befindlichen Nationalversammlungen zu beobachten, wie z. B. der Ausschluss der Mitglieder der
Konstituante von der Wählbarkeit zur Legislative. DieKonstituante,d.h. die verfassung-
gebende Nationalversammlung, welche vom 17. Juni 1789 — 30. September 1791 tagte, war ausden
alten Generalständen des Reiches entstanden, die am 5. Mai 1789 zusammengetreten waren. In
allen drei Ständen war nach einem gegen früher bedeutend ausgedehnten, im 3. Stande nach nahezu
allgemeinem Wahlrecht gewählt worden. Am 17. Junierklärte sich der dritte Stand in revolutionärer
Weise zur Nationalversammlung, der sich bald die Majorität des Klerus und die Minorität des Adels
zugesellten. Bei ihrer verfassunggebenden Arbeit war die Konstituante zwar von den Besuchern
der Galerie und von der Strasse vielfach bedroht, nach oben aber nahezu unbeschränkt, da sie es
verstand, durch das Aufgebot „des Volkes‘ die Regierung zur Annahme selbst der ihr verhasstesten
und schädlichsten Anträge zu bringen. Das Resultat war die Verfassung vom 3. September 1791,
mit der etwa ein Jahr langein Versuch gemacht wurde. Sie war dem Anstrich nach noch monarchisch,
in Wirklichkeit aber lag alle Macht bei dereinen Kammer, die man eingeführt hatte, der Legis-
lative, die vom 1. Oktober 1791 — 19. September 1792 tagte. Zwar war hier kein eigentlich
parlamentarisches Regime eingeführt; der König war vielmehr in der Wahl seiner Minister dem
Namen nach frei, — allein, abgesehen davon, dass er trotzdem mehrfach seine Minister der in der
Legislative siegreichen Partei entnahm, war die gesetzgebende Versammlung in der Lage, auch bei
ihr feindselig gesinnten Ministerien in der gesamten innern und auswärtigen Politik, durch recht-
mässige oder unrechtmässige Mittel, ihren Willen durchzusetzen. In der Gesetzgebung war der
König dadurch zur Ohnmacht verurteilt, dass er den Beschlüssen der Kammer gegenüber nur ein
suspensives Veto erhielt. Die Legislative bestand aus 745 Mitgliedern, welche nach einem durch
einen geringen Zensus beschränkten Wahlrecht gewählt waren. Dadurch blieben immerhin mehrere
Millionen Franzosen als „Passiv-Bürger“ am Wahlrecht unbeteiligt — ein flagranter Bruch des so
laut verkündeten Prinzips der Gleichheit, zu dem sich die verfassunggebende Versammlung aus
Angst entschlossen hatte. Die so niedrige Ansetzung des Zensus war überdies ein schwerer Fehler.