Adalbert Wahl, Geschichte des Parlamentarismus in Frankreich. 395
wie nichts: ala der Tribunat i. T. 1807 schwierig wurde. ist er einfach abgeschafft worden. Von Elba
zurückgekehrt, kam dann allerdings Napoleon durch den Acte Additionnel aux Constitutions
de l’Empire vom 22. April 1815, den Benjamin Constant, das Haupt der Konstitutionellen, ver-
fertigt hatte, den verfassungspolitischen Wünschen seines Volkes weit entgegen. Ob freilich Na-
poleon, wenn er im Feldzug von Waterloo siegreich geblieben wäre, wirklich dem Geiste dieser Ver-
fassung entsprechend regiert hätte, ist mehr als fraglich.
Der auf den Thron Frankreichs zurückgekehrte Ludwig XVIII. beseitigte zunächst eine
vom Napoleonischen Senat erlassene, auf dem Prinzip der Volkssouveränität beruhende, im übrigen
monarchische Verfassung vom 6. April 1814 und octroyierte die später viel nachgeahmte Charte
Constitutionelle vom 4. Juni 1814, die ihrerseits in manchen Dingen auf die Montesquieu’sche
Auffassung der englischen Verfassung zurückging. Seine Regierung (— 1824), wie die seines Bruders
Karl X. (— 1830), bedeutete denVersuch, Frankreich mitdemkonstitutionellenSystem
im engeren Sinne —- im Gegensatz zum parlamentarischen — zu regieren, wonach der erb-
liche König, der die Summe der Staatsgewalt in seiner Hand vereinigt, nur bei einer bestimmten
Anzahl allerdings wichtigster Regierungshandlungen, wie die Gesetzgebung und die Besteuerung, an
die Mitwirkung des Parlaments gebunden ist. Das Parlament zerfiel in zwei Häuser, die völlig gleich-
berechtigt waren: die Kammer der Pairs und die Kammer der Abgeordneten. Die Mitgliederzahl
der ersteren war unbeschränkt. Die Prinzen des königlichen Hauses traten kraft ihrer Geburt ein;
alle anderen Mitglieder ernannte der König auf Lebenszeit, oder er verlieh ihnen daserbliche
Recht der Pairie. Tatsächlich wog das aristokratische Element in der Pairskammer unbedingt vor.
Die Mitglieder der Kammer der Abgeordneten wurden nach einem überaus hohen passiven (1000 Fies.
direkter Steuern) und ebenfalls sehr hohen aktiven Wahlzensus (300 Fres. direkter Steuern) gewählt:
nur etwa 90 000 Franzosen erfreuten sich des aktiven Wahlrechts. Das System wurde von Ludwig
XVIII. mit Mässigung und Gerechtigkeit angewandt. Alsi. J. 1816 eine Ausdehnung des Wahlrechts
gemäss der damaligen Stimmung des Volkes eine Kammer ergeben hatte, welche von Rachegelüsten
gegen die Revolution erfüllt war, führte der König unter lautem Beifall der Liberalen das beschränk-
tere Wahlrecht wieder ein (5. Sept. 1816). Von den drei Parteien, der Rechten (Anhänger des alten
Frankreich, aber auch der lokalen Selbstverwaltung, und Klerikale), der Mitte (Anhänger der kon-
stitutionellen Monarchie) und der Linken (Anhänger der Revolution), stützte sich Ludwig durchaus
auf die zweite. Erst nach der Ermordung des Herzogs von Berry (1820) neigte die Regierung mehr
zur Rechten. KarlX. dagegen gehörte dieser Partei innerlich an. Sofort nach seinem Regierungs-
antritt wurde er von der immer mehr anwachsenden Partei der Revolution, die keineswegs etwa
in der Verteidigung, sondern im Angriff handelte, auf das heftigste bekämpft. Die nächsten Ziele
dieser Partei auf dem Gebiete des Parlamentarismus — andere, wie z. B. die kirchenpolitischen, ge-
hören nicht hierher, ebensowenig wie die Feindschaft dieser Partei gegen die trefflichen Selbstver-
waltungsideen der Regierung — waren die Ausdehnung des ja allerdings viel zu engen Wahlrechts,
die Zurückdrängung und Umbildung der Pairskammer und des Adels überhaupt und die Einführung
parlamentarischer Regierungsweise, . Die Angriffe dauerten fort, als Karl X. 1828 ein gemässigtes Mi-
nisterium Martignac ernannte, das auch von rechts bekämpft wurde, ja von dem sogar der linke
Flügel der gemässigten Partei der Mitte abfiel. Immerhin war die Zahl der eigentlichen Republikaner
noch sehr gering. Es folgte das Ministerium Polignac, welches, auf das massloseste bekämpft, sich
zu den drei Ordonnanzen vom 25. Juli 1830 hinreissen liess, vondeneneinedas Wahlrecht beschränkte,
eine andere die Pressfreiheit beseitigte. Diese gaben den Anlass zu der längst vorbereiteten Re-
volution.
Nach dem Sturze Karls X. und der Berufung seines Vetters Louis-Philippe von Orleans
auf den Thron (1830—1848) wurden zwar die Hoffnungen des weitaus grössten Teiles der siegreichen
Julirevolutionäre betrogen, aber die den spezifisch bürgerlichen Führern erwünschten Änderungen
an der Charte vorgenommen. Das Resultat war die Charte Constitutionelle vom 14. August 1830,
welche einige Änderungen i im liberalen Sinne brachte. Wichtiger aber waren Neuerungen, die sich
nicht in der Verfassungsurkunde fanden: ein neucs Wahlgesetz dchnte das aktive Wahlrecht aus;
jedoch war die siegreiche Bourgoisie dabei so vorsichtig, "dass die Zahl der Wähler nur auf etwa
200 000 stier. Durch Gesetz vom 29. Dez. 1831 wurde die Zusammensetzung der Pairskammer