Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

396 Adalbert Wahl, Geschichte des Parlamentarismus in Frankreich. 
verbürgerlicht, indem der König bei der Auswahl an wesentlich bürgerliche Kategorien gebunden 
und die erbliche Pairie beseitigt wurde. Die Pairskammer trat im Verlauf der Regierung Louis- 
Philippes in der Tat an politischer Bedeutung stark zurück. Schliesslich wurde durch die Praxis der 
Regierung das parlamentarische Regime eingeführt. Es zeigte sich aber der Natur der Sache nach 
im ersten Jahrzehnt der Regierung Louis-Philippes der Nonsens des parlamentarischen Regimes 
ohne Zwei-Parteiensystem, vor allem durch fortwährende Ministerwechsel. Erst nach bitteren Er- 
fahrungen in der auswärtigen Politik, nach der schweren Krisis des Jahres 1840 entstand aus der 
regierenden Mittelpartei, den „Konservativen“, und einer grossen Zahl von Überläufern der zwei 
übrigen grossen Parteien (Partei der Revolution und Partei der Reaktion) eine kompakte Regierungs- 
mehrheit, die es dem Ministerium Guizot ermöglichte, dauernd am Ruder zu bleiben. Die Repu- 
blikaner, deren Zahl seit der Julirevolution schnell anwuchs, richteten ihre Angriffe jetzt, unter 
Zurückstellung ihrer eigentlichen Ziele, gegen die Beschränkungen des Wahlrechts. Dabei fanden sie 
die Unterstützung von zahlreichen monarchischen Elementen im Lande. Hierin nachzugeben war 
aber die Regierung nicht bereit, hauptsächlich weil bei dem einmalangenommenen parlamentarischen 
Regime eine Ausdehnung des Wahlrechts die Regierung wieder dem zufälligen Spiel der Mehrheiten 
preisgegeben hätte; auf demselben Standpunkt stand die Kammer, die an ihrer Herrschaft fest- 
halten wollte. Gefährlich wurde die Lage seit 1847, ohne dass die Regierung den Ernst der Situation 
klar erkannt hätte. Zu den Republikanern gesellten sich jetzt die an Bedeutung zunehmenden 
Bonapartisten. Halb Frankreich war in Opposition gegen die Regierung, während diese in den 
Kammern noch über ihre sichere Mehrheit verfügte. Da brach die wohl organisierte Strassenre- 
volution los, zuerst mit bürgerlichen Zielen (22. Februar), vom 24. Februar an aber unter aus- 
gesprochen republikanisch-sozialistischer Führung. Die Ereignisse führten zur Abdankung und 
Flucht des Königs. Die Mehrheit der Kammern verharrte, bis sie vom Volk zersprengt wurde, 
auf dem monarchischen Standpunkte. 
Am 23. Februar wurde die (zweite) Republik proklamiert. Am 4. Mai 1848 ging aus all- 
gemeinen Wahlen eine konstituierende Versammlung hervor, welche bis zum Mai 1849 zusammenblieb. 
Die von ihr verfertigte Verfassung trägt das Datum des 4. November 1848. Sie beruhte auf dem Ge- 
danken der Gewaltenteilung zwischen einer Kammer als Legislative und einem auf 4 Jahre ge- 
wählten Präsidenten, der die Exekutive erhielt. Die Kammer wurde nach allgemeinem, gleichem, 
direktem und geheimem Wahlrecht gewählt; sie umfasste 750 Abgeordnete. Die Befugnisse des 
Präsidenten waren aber aus Furcht vor der roten Revolution, welche im Gefolge der Februarrevo- 
lution in der Tat das Land dem Abgrund nahe gebracht hatte, ausserordentlich stark gestaltet 
worden, so dass alle eigentliche Macht in seiner Hand vereinigt war. Die Sehnsucht nach einer 
starken Regierung war es in letzter Linie auch, welche das französische Volk veranlasste, am 10. De- 
zember 1848 mit erdrückender Mehrheit Ludwig Napoleon, den Sohn des früheren Königs von 
Holland, zum Präsidenten zu wählen. Die Legislative, die endlich im Mai 1849 zusammentrat, 
umfasste nur noch etwa 250 Republikaner und Sozialdemokraten, dagegen 500 Monarchisten ver- 
schiedener Richtung und Klerikale. Die Kammer missbrauchte unter dem Antrieb der Furcht ihre 
gesetzgebende Gewalt zu allerhand freiheitfeindlichen Massnahmen: sie knebelte die Presse, verbot 
alle öffentlichen Versammlungen und entzog schliesslich (31. Mai 1850) wieder etwa 3 Millionen von 
Franzosen das Wahlrecht. Sie verlor bald jedes Ansehen und wurde so, ohne allen Anteil an der 
Macht des Staates, wie sie war, eine leichte Beute für den Präsidenten, dessen Aussichten zur Be- 
gründung einer Alleinherrschaft übrigens von vornherein sehr gross gewesen waren. So gelang der 
Staatsstreich vom 2. Dezember 1851 mühelos, auf Grund dessen ein Plebiszit (71, Millionen Stimmen 
gegen 647 000) Louis Napoleon die Befugnis zusprach, eine neue Verfassung zu machen, die am 14. Ja- 
nuar 1852 vollendet war. 
Es folgte nun, wie unter Napoleon I., eine Zeitdes Scheinkonstitutionalismus. 
Durch die Verfassung vom 14. Januar 1852 wurde Napoleon zum Präsidenten auf 10 Jahre gemacht. 
Er war nur scheinbar beschränkt durch 2 Kammern, ein corpslegislatif von 261 Mitgliedern und 
einen Senat von 150 Mitgliedern. Der Präsident allein hatte das Recht der Initiative bei der 
Gesetzgebung. Er war „verantwortlich“: allein die Ausführungsbestimmungen, die notwendig ge- 
wesen wären, umseine Verantwortlichkeit zur Tatsachezu machen, ergingen nie. Der Senat bestand aus
	        
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