Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

Theobald Ziegler, Geschichte des Parlamentarismus in Deutschland. 491 
  
Preussen von vornherein höher standen als alle die Kämpfe und Wortgefechte in den kleinen deut- 
schen Landtagen der vormärzlichen Zeit. Immerhin schulten sich in diesen drei Jahrzehnten vor 1848 
die parlamentarischen Wortführer, die sich mit Vorliebe die französischen Kammerredner zum 
Muster nahmen; und der liberalen Opposition, die sich gleich nach den Befreiungskriegen und der 
Enttäuschung aller nationalen und freiheitlichen Hoffnungen gebildet hatte, wurden hier von 
Welcker und Rotteck, von Pfizer und Uhland erstmals die Waffen zum Kampfe geschmiedet, hier 
bereiteten sich die politischen Probleme der Jahre 1848, 1866 und 1871 vor und hier fand man für 
sie auch schon die handlichen Formeln und die wirksamsten Schlagworte. Denn nicht bloss die 
„vaterländischen Gedichte‘ Uhlands und die Tendenzpoesie des jungen Deutschland, auch die 
Kammerreden dieser liberalen Oppositionsmänner fanden in ganz Deutschland jubelnden Widerhall. 
Und auch um wichtige parlamentarische Rechte wurde hier gestritten: die Behandlung Uhlands, dem 
die Regierung den zur Ausübung seiner parlamentarischen Tätigkeit notwendigen Urlaub verwei- 
gerte und die darauf hin begehrte Entlassung aus dem Staatsdienst „sehr gerne‘ gewährte, zeigte, 
wie es geradezu eine Lebensfrage für den Parlamentarismus war, sich und seine Träger mit gesetz- 
lichen Garantien zu umgeben. 
Mit seinen beiden Forderungen der nationalen Einheit und der verfassungsmässigen Freiheit 
hatte der Liberalismus gewiss nur recht. Aber es war doch verhängnisvoll, dass ihm von vornherein 
ein partikularistischer Zug anhaftete, weil er wesentlich süddeutsch und kleinstaatlich war. Natür- 
lich gab es auch im Norden Liberale; aber weil ihnen die Möglichkeit des öffentlichen Hervortretens 
und die Resonanz im Volke fehlte, so blieb der Liberalismus dort auf Einzelne oder auf kleine Kreise 
beschränkt und nahm dadurch etwas Esoterisches, fast könnte man sagen: eine aristokratisch steife 
und zugeknöpfte Art an. Und weil in Süddeutschland vielfach Professoren und Advokaten an der 
Spitze der Opposition standen, so bekam er hier einen stark doktrinären Zug, der wohl auch mit dem 
Geiste der Aufklärung zusammenhing, die den gebildeten Bürgerstand noch immer beherrschte; und 
aus diesem rekrutierte sich ja natürlich der oppositionelle Liberalismus zumeist. 
In den Kleinstaaten waren die Gegner der Liberalen einfach gouvernemental, eine konser- 
vative Partei gab es hier nicht. Sie finden wir zuerst in dem „Vereinigten Landtag‘ von 1847 in 
Preussen, in dem freilich auch wieder Liberale wie Vincke die geistigeFührung hatten. Auch die Ein- 
berufung dieses ersten preussischen Parlaments litt an dem Fehler aller Massregeln Friedrich Wil- 
helmsIV., siekam zu spät und sie brachte nichts Ganzes; selbst die gesetzlich geregelte periodische 
Einberufung liess sich der König nur mühsam abringen. Unddoch stand die Versammlung sofort auf 
einer solchen geistigen Höhe, dass alle Welt sah, einem Volk mit solchen Männern werde die längst 
zugesagte Verfassung ganz unberechtigterweise vorenthalten. Und auch das war bedeutsam und 
zeugte von einem neuen Faktor und Geist in unserem Staatsleben, dass ein Eisenbahnanlehen, also 
ein modernes Verkehrsinteresse, den Hauptanstoss zu ihrer Einberufung gegeben hatte. 
Aber nicht nur in Preussen, auch in den kleinen Staaten wurden in den vierziger Jahren die 
Geister lebendig und wach. Die Opposition gegen den Romantiker auf dem Throne derCäsaren und die 
Enttäuschung, die der mit so grossen Erwartungen aufgenommene König der Welt bereitete, die 
schrillen Töne der Tendenzpoeten wie Heine und Freiligrath, die nationale Bewegung bei der Be- 
drohung der Rheingrenze durch Tbiers und dem Erlass des „Offenen Briefs‘‘ durch König Christian 
VIII. von Dänemark, der sich über die verbrieften Rechte der Elbherzogtümer zu Gunsten eines 
unverletzlichen dänischen Gesamtstaates hinwegsetzte, — alles das brachte die Gemüter mehr und 
mehr in fieberhafte Revolutionsstimmung. Zur Aussprache und zu Beschlüssen verdichteten sich 
solche Wünsche und Forderungen vor allem in der badischen Kammer, wo Karl Mathy einen Antrag 
auf Beseitigung der dort besonders unerträglichen Zensur und Bassermann unmittelbar vor dem 
Ausbruch der Revolution einen Antrag auf Einsetzung eines deutschen Parlaments einbrachte. 
Und dieses kam nun sofort, als von Paris her derrevolutionäre Stunm auch über die deutschen 
Länder alle hinwegbrauste. In den kleinen Staaten fielen überall die reaktionären Minister und 
machten den bisherigen Führern der Opposition, also in parlamentarischen Kämpfen wohl geschulten 
und erprobten und überdies fast durchweg ganz gemässigten Männern Platz. Zu den Märzerrungen- 
schaften aber gehörten immer zuerst Pressfreiheit und Abschaffung der Zensur, Versammlungs- 
recht und Geschworenengerichte, Ablösung der Zehnten und Fronen u. dgl. m. 
Handbuch der Pulitik. IT. Auflage. Band 1. 26
	        
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