Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

Theobalä Ziegler, Geschichte des Parlamentarismus in Deutschland. 405 
  
stellten und die Wichtigkeit der Heeresreform für die europäische Machtstellung Preussens über- 
sahen, setzten sie sich in dem Augenblick ins Unrecht, wo ein weitblickender Staatsmann dem 
preussischen Staat auf friderizianischen Bahnen den Weg zur Höhe wies und damit endlich auch 
klar und zielbewusst die grosse deutsche Frage durch die Einigung Deutschlands unter Preussens 
ausschliesslicher Führung ihrer definitiven Lösung entgegenführen wollte. Dieser Staatsmann war 
Otto von Bismarck, den die Welt bis dahin freilich nur als kecken Junker kannte und daher in Wirk- 
lichkeit nicht kannte und nicht verstand. Er war vom König berufen worden, um die Heeresre- 
form, an der diesem alles gelegen war, auch gegen den dawiderlaufenden Strom der öffentlichen 
Meinung und gegen die stetig wachsende Opposition der zweiten Kammer durchzuführen. Dahinter 
stand für ihn, der ein Konservativer war und die Stahl’sche Auffassung von dem Wesen des preus- 
sischen Königtums aus voller Überzeugung teilte, noch ein anderes Grösseres: ihm erschien es als 
eine Kraftprobe zwischen Krone und Parlament, zwischen königlichem Regiment und Parlaments- 
herrschaft. Die Führer der Kammermehrheit wollten aus Preussen einen konstitutionellen Staat 
nach dem Muster Englands machen, nach Bismarcks „institutioneller‘‘ Anschauung sollte das 
Königtum selbständig regieren als eine Macht über den Parteien. Daran aber glaubten die Liberalen 
deswegen nicht und konnten nicht daran glauben, weil das Königtum unter Friedrich Wilhelm IV. 
für eine Partei, die der Rechten, selber Partei genommen und sich dadurch nur allzuwillig in den 
Dienst einseitig kouservativer Interessen gestellt hatte. 
So war der Konflikt von vornherein eine Machtfrage zwischen Königtum und Parlament 
und spielte sich dann auch wie eine Prinzipientragödie dramatisch bewegt und mit dem vollen 
Pathos der handelnden Personen hin und her ab. Das Parlament, in dem die Fortschrittspartei seit 
1861 die Majorität hatte, erklärte jede nicht vom Abgeordnetenhaus genehmigte Ausgabe für ver- 
fassungswidrig. König Wilhelm und sein Minister bezeichneten die Aufrechterhaltung der in- 
zwischen durchgeführten Heeresorganisation als eine Lebensfrage für Preussen und darum als ihre 
Pflicht, und beriefen sich für die Rechtmässigkeit ihres Beharrens auf $ 99 und $ 62 der Verfassung: 
nach dem ersteren wird der Staatshaushalt jährlich durch ein Gesetz festgestellt; nach dem zweiten 
kommt ein Gesetz zustande durch Übereinstimmung der Krone und der beiden Kammern. Was 
dagegen zu geschehen habe, wenn diese Voraussetzung nicht erfüllt ist, darüber sage, so behaupteten 
sie, die Verfassung nichts, es sei also in dieser „eine Lücke‘ vorhanden, die nun eben einstweilen 
durch eine Tatsache auszufüllen sei. Die Phasen dieses Kampfes zu erzählen, ist nicht die Aufgabe 
dieses Ortes. Auf beiden Seiten war Recht und Unrecht, Pathos und Leidenschaft, und der Streit 
spitzte sich immer mehr zu einer Machtfrage zu, die nur die Macht entscheiden konnte. Als vollends 
im Juni 1863 die Pressordonanz erschien, die die Presse der Verwaltungsbehörde unterstellte und 
die Existenz eines Blattes von seiner Gesamthaltung abhängig machte, schien der Konflikt un- 
löslich geworden, und das von der Stadt Cöln den fortschrittlichen Abgeordneten gegebene Fest 
erinnerte unheimlich an die französischen Reformbankette vor dem Ausbruch der Februar- 
revolution. Weder Bismarcks Erfolg gegen den widerspenstigen Kurfürsten von Hessen noch der 
meisterhaft geführte diplomatische Feldzug um Schleswig-Holstein mit samt den die Heeresorgani- 
sation inihrer Richtigkeitund ihremWerte bestätigenden Siegen von Düppel und Alsen vermochtenden 
Konflikt und die Konfliktstimmung zu beseitigen, wenngleich sich der Umschwung der öffentlichen 
Meinung zu Gunsten Bismarcks doch allmählich anbahnte. Das Fernbleiben des Königs von 
Preussen vom Fürstentag in Frankfurt, auf dem der Kaiser von Österreich die deutsche Frage 
dualistisch lösen wollte durch ein fünfköpfiges Direktorium unter Österreichs Vorsitz und durch ein 
Delegiertenparlament von 300 Abgeordneten, unter denen nur 75 aus Preussen, brachte dieses selt- 
same Reformprojekt zum verdienten Scheitern, wurde auch von einem deutschen Abgeordneten- 
tag unter Bennigsens Führung gewissermassen sanktioniert, blieb aber im Augenblick doch den 
meisten unverständlich und erweckte den Schein, als ob Bismarck auch der deutschen Frage 
gegenüber versage. 
st der Krieg von 1866 brachte die Lösung, wie für das deutsche Problem im Grossen, so 
auch für den Konflikt zwischen Krone und Landtag im Innern. Die Wahlen zur zweiten Kammer vom 
3. Juli, dem Tag von Königgrätz, zerstörten die fortschrittliche Majorität. Und nun tat Bismarck den 
entscheidenden Schritt, indem er es gegen die Mehrheit im preussischen Ministerium bei dem König
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.