Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

Theobald Ziegler, Geschichte des Parlamentarismus in Deutschland. 407 
ralen Forderung auf Errichtung verantwortlicher Reichsministerien versagte. Im Reich war er der 
einzige dem Reichstag direkt verantwortliche Beamte, in Preussen war er als Ministerpräsident der 
primus inter pares; und dass die Faktoren, die ihn hier bedrängten und beengten, auch auf das 
Reich übertragen werden, wünschte er sich nicht. Es war übrigens keine blosse Personen- und 
Machtfrage, um die es sich dabei handelte. 
In den achtziger Jahren wuchs die Opposition gegen das Bismarcksche Regime und machte 
sich im Reichstag oft in recht schroffer Form geltend. Es war die Zeit des Sozialistengesetzes, über 
dessen Ausführung und Verlängerung die heftigsten Debatten geführt wurden, die der Reichstag 
gesehen hat. Sie liessen fast vergessen, dass seit der Novemberbotschaft von 1881 neben den Re- 
pressalien auch die positive Arbeit der Sozialreform und sozialen Gesetzgebung stand, worin der 
deutsche Staat hinfort die Führung übernahm: das Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetz 
vom 22. Juni 1889 zeigte, dass dem deutschen Reich und seiner Gesetzgebung wirklich „ein paar 
Tropfen sozialen Öles im Rezept beigesetzt‘ waren. Da musste sich auch der Reichstag 
von dem öden Manchestertum frei machen und mit dem richtig verstandenen Sozialismus Frieden 
schliessen :erhatesgetan und zugelernt, und heute versagtsich keine Parteimehr densozialen Gedanken 
und Aufgaben,selbst fürdieReicl icl gsordnung hat wenigstensein Teilderalten Fortschritts- 
partei gestimmt, deren langjähriger Führer Eugen Richter gewesen ist. Dass dem Kanzler 
vom Reichstag das Tabaks- und Branntweinmonopol verweigert wurde, war ein Fehler, der sich 
in der Finanznot des Reiches bitter rächte und an dessen Folgen wir in der Hetze über die Reichs- 
finanzreform von 1909 und trotz der direkten Reichssteuern von 1913 auch heute noch zu tragen 
haben. 1887 kam es wieder über eine Heeresvorlage zwischen Bismarck und dem Reichstag zum 
Bruch. Dieser wollte die Erhöhung des Friedensstandes unserer Armee von 427- auf 468000 Mann 
nur auf drei Jahre statt auf sieben bewilligen. Darin sah der Reichskanzler nicht nur den Bruch 
eines alten Kompromisses — Bewilligung des Friedensstandes auf immer, auf sieben oder auf drei 
Jahre: Äternat Septennat, Triennat, — sondern noch einmal den Versuch, das Heer zu einem 
Parlamentsheer zu machen. So löste er den Reichstag auf und erhielt durch die „Septennats- 
wahlen“ aufs neue eine Majorität für die Regierung, wie denn noch immer, wenn nationale Fragen 
auf dem Spiele standen, das Volk den ablehnend sich verhaltenden Reichstag rektifiziert hat. 
Unter dem neuen Kaiser Wilhelm II. kam die Majorität ins Schwanken, das Sozialistengesetz, 
das seinen temporären Charakter verlieren sollte, wurde verworfen, und die Neuwahlen im Februar 
1890 ergaben ein stark oppositionelles Parlament. Die Folge war der Sturz Bismarcks. Dass einer 
der Punkte, über die er fiel, sein Verkehr mit den parlamentarischen Parteiführern war, den der 
junge Kaiser einschränken und von seiner Zustimmung abhängig machen wollte, gehört in diesen 
Zusammenhang und gehört fast gar zum Treppenwitz der Geschichte. Traurig war, dass fünf Jahre 
nachherder deutsche Reichstag dem Gründer desReichs, dem er also auch seine eigene Existenz ver- 
dankte, jede Ehrung zum achzigsten Geburtstag verweigerte. Es war das menschlich eine Roheit 
und politisch ein schwerer Fehler, den freilich das deutsche Volk durch den Jubel, mit dem es in 
weiten Kreisen diesen Tag feierte, und die deutsche Jugend, die sich voll dankbarer Begeisterung 
um den greisen Helden scharte, alsbald korrigiert hat. 
berhaupt sank das Niveau der Reichstagsverhandlungen in den letzten zwanzig Jahren, 
die noch nicht eigentlich der Geschichte angehören, sondern unsere Gegenwart sind, man kann fast 
sagen: von Stufe zu Stufe. Und im Zusammenhang damit sinkt auch das Interesse des Volks an 
diesen Verhandlungen und der Glaube an den Parlamentarismus überhaupt. Es zeigt sich dies auch 
darin, dass sich wiederholt die öffentliche Meinung stärkeı erwies als die Vota des Parlaments, so 
1892 bei dem Scheitern des konservativ-klerikalen Schulgesetzes unter dem Grafen von Zedlitz- 
Trützschler als Kultusminister in Preussen, und 1900 bei dem misslungenen Ansturm gegen die 
deutsche Kunst und Literatur in der sogenannten lex Heinze durch den Reichstag. Immerhin hat 
sich dieser von hässlichen Lärmszenen und unwürdigen Obstruktionsversuchen fast durchweg 
rühmenswert frei gehalten, und auch die Einzellandtage sind diesem guten Beispiel gefolgt, mit 
Ausnahme des elsass-lothringischen Landesausschusses, der sich noch unmittelbar vor seinem un- 
rühmlichen Ende unter einer unfähigen Leitung über alle Massen würdelos benommen hat. Auch das 
Zweikammersystem hat in Deutschland nirgends zu Konflikten schwererer Art geführt,
	        
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