Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

408 Theobald Ziegler, Geschichte des Parlamentarismus in Deutschland. 
1909 erlebte der Reichstag noch einmal einen ungeahnt grossen Erfolg. Während bis dahin 
wie in Preussen so im Reich an dem Grundsatz festgehalten worden war, dass der König und Kaiser 
die Minister ganz unabhängig von der Parlamentsmehrheit und von Parlamentsabstimmungen als 
Männer seines Vertrauens berufe, entlasse oder festhalte, fiel Fürst Bülow, als ihn Konservative 
und Zentrum bei der Reichsfinanzreform im Stich liessen und die geforderte Erbschaftssteuer ab- 
lebnten. Er hatte freilich vorher schon durch sein Auftreten in den Novemberverhandlungen des 
Jahres 1908 über das persönliche Regiment des Kaisers und durch die diesem abgenötigte Zusage 
grösserer Zurückhaltung, um die „Stetigkeit der Politik des Reiches unter Wahrung der verfassungs- 
mässigen Verantwortlichkeiten zu sichern‘, das Vertrauen des Kaisers verloren. Und die Berufung 
des Herrn von Bethmann Hollweg, der in der Reichsfinanzreformfrage der Mitarbeiter Bülows gewesen 
war, bewies, dass es mit dem Parlamentarismus im englischen Sinn des Worts bei uns noch immer 
gute Wege hat. Von einem Parteiministerium ist gerade unter dem gegenwärtigen Reichskanzler 
am allerwenigsten die Rede; sein Grundsatz, mit dem er sein Amt antrat, war: über den Parteien 
zu stehen; und dass er ihn auch praktisch betätigt, beweist die ganz verschiedene Zusammensetzung 
der Majoritäten für die beiden grossen Gesetze des Sommers 1911, die elsass-lothringische Verfassung, 
diegegen die Konservativen vomZentrum undder ganzen LinkenmitEEi lerSoziald krat 
angenommen wurde, und die Reichsversicl Inung. bei der die Konservativen das Heft in 
der Hand und Zentrum und Nationalliberale zu Bundesgenossen hatten; und beweist sein Konflikt 
mit dem Führer der Konservativen anlässlich der Verhandlungen über den Marokkovertrag im 
November 1911. Und auch im neuen Reichstag ist die Deckungsfrage bei der grossen Heeresvorlage, 
durch deren Annahme im Sommer 1913 lange Versäumtes nachgeholt und die allgemeine Wehr- 
pflicht endlich zur Wahrheit wurde, wieder ohne die Konservativen und mit Zustimmung der 
Sozialdemokraten gelöst worden. Jener Vertrag mit Frankreich über die Abtretung am Kongo 
hat übrıgens, ganz abgesehen von seinem sonstigen Wert oder Unwert, auch noch den Austoss 
gegeben zu einer Erweiterung des Rechtes des Reichstags, in Fragen der auswärtigen Politik 
mehr als bisber mitreden zu dürfen, einer Erweiterung, die freilich auch neue höhere Anforde- 
rungen an das Verantwortlichkeitsgefühl der Reichstaesmitelieder stellen wird. als sie gerade 
bei diesem Anlass an den Tag relest haben. Dagegen hat die Bestimmung, dass nach Inter- 
pellationen im Reichstag die Billigung oder Missbilligung der Antwort der Regierung durch 
Abstimmung zum Ausdruck gebracht werden darf, bei dem über Gebühr aufgebauschten und 
ungerecht verallgemeinerten „Fall Zabern‘ gezeigt, dass dadurch zwar immer noch nicht „der 
Parlamentarismus‘ eingeführt ist, aber doch eine starke Erschütterung der Autorität des Reichs- 
kanzlers herbeigeführt werden kann. 
Die nächste grosse Frage für dendeutschen Parlamentarismus aber wird sich ohne Zweifel nicht 
im Reich, sondern im Einzelstaat Preussen abspielen. Hier handelt es sich darum, ob es bei dem 
bisherigen indirekten und öffentlichen Dreiklassenwahlmodus verbleiben oder ob an seine Stelle das 
geheime und direkte und jedenfalls ein erheblich allgemeineres Wahlrecht als bisher, nach den Forde- 
rungen der Linken am liebsten wie in Süddeutschland das Reichstagswahlrecht treten solle; und das 
heisst nicht mehr und nicht weniger als: es wird sich entscheiden müssen, ob Preussen der konser- 
vative Staat, der er ist, bleiben oder ob auch er liberalisiert und demokratisiert werden soll. Der 
Reichskanzler hat durch Gewährung des Reichstagswahlrechts an Elsass-Lothringen die Versagung 
desselben in Preussen schwer oder wie manche meinen: unmöglich gemacht. Und doch ist auf der 
anderen Seite nicht abzusehen, wie das aus dem Dreiklassenwahlrecht hervorgegangene preussische 
Abgeordnetenhaus, um vom Herrenhaus ganz zu schweigen, sich darauf einlassen sollte. Hier droht 
ein parlamentarischer Konflikt der schwersten Art, und hinter ihm steht die Geschichte und stehen 
die Geschicke Preussens und des Reichs mit ihm in ihrer ganzen Grösse und Schwere. Vielleicht 
zeigt aber die Ablehnung des Gedankens, durch einen Massenstreik die Einführung des Reichs- 
tagswallrechts in Preu‘sen zu erzwingen, auf dem sozialdemokratischen Parteitag in Jena (1913), 
dass wir der Lösung dieser Aufgabe überhaupt noch nicht so nahe stehen, wie manche fürchten 
oder hoffen. Jedenfalls ist es eıne Zukunftstrage, deren Beantwortung glücklicherweise nicht in 
dieses historische Kapitel gehört und nicht von mir gefordert wird.
	        
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