Friedrich Tezner, Entwicklung des Parlamentarismus in Österreich-Ungarn. 413
sei es in Form der Konstituierung einer Zollunion (eines Handelsbündnisses), sei es in Form
eines Zoll- und Handels vertrages. Der in beiden Gesetzen vorgesehene Verkehr zwischen den
beiden Legislativen durch Deputationen hat sich infolge staatsrechtlicher Bedenken der
Ungarn nicht entwickelt. Die Aufstellung des sogenannten gemeinsamen, wesentlich
nur den Heeresaufwand umfassenden Budgets ist den Delegationen der beiden Legis-
lativen vorbehalten, die sich wegen dieser ihrer Zuständigkeit und wegen ihrer Zuständigkeit zur
Geltendmachung der konstitutionellen Verantwortlichkeit der gemeinsamen Minister als die beiden
Legislativen im verkleinerten Massstab darstellen. In jeder der beiden D.legationen sind die von
beiden Häusern Gewählten zu einem Kollegium vereinigt. Für die Wahrung ihrer schärfsten
Sonderung in der Beratung und Beschlussfassung ist ängstlich Sorge getragen. Die Ungarn sind
darauf bedacht, dass es zu derrechtlich zulässigen Vereinigung beider Delegationen für Abstimmungs-
zwecke wegen obwaltenden Dissenses nicht mehr komme. Das Rechtsinstitut der Delegationen
bedeutet wegen ihrerkk ur ze n Tagungen, wegen ihrer Zuständigkeit zur FeststellungdesH eeres-
budgets, wegen der mit ihrem Bestande verknüpften Ausschliessung eines unmittelbaren Ein-
flusses beider Vollparlamente auf die gemeinsamen Minister, die im wesentlichen fachtechnische
Organe der Krone sind und sich zu keiner Regierung im konstitutionellen Sinn d. W. zusammen-
schliessen, eine weitgehende Einschränkung des konstitutionellen
Prinzipsin beiden Ländergruppen. Nursoisteserklärlich, dass die Bevölkerung
hüben und dıüben während des Balkankrieges über die Ziele der äusseren Politik in beängstigende
Ungewissheit dauernd und ohne fühlbare parlamentarische Gegenwirkung erhalten werden konnte.
Aber auch die Finanz- wie die Wirtschaftspolitik wird, soweit sie den Gegenstand der Vereinbarung
zwischen beiden Ländergruppen bildet, nicht durch die Parlamente sondern durch die Regie-
rungen oder richtiger durchdieaufsiedrückenden ausserparlamen-
taridcehen wirtschaftlichen Parteien bestimmt. Ein organischer Zusammen-
hang zwischen der sogenannten gemeinsamen Regierung und den Sonderregierungen besteht
nicht. Die organische Einheit ruht nur im Monarchen. Die gemeinsame Regierung ist eine kon-
stitutionell fast vollständig indifferente Einrichtung.
Der durch das Bedürfnis der Wiedergewinnung der historischen Stellung des Monarchen
in Deutschland geförderte Drang zur Beschleunigung des Friedens mit dem ungarischen Volke hat
bewirkt, dass der verfassungsrechtlich begründeten und wiederholt durch den Monarchen aner-
kannten Rechtsstellung Kroatiens als eines mit Ungarn paritätischen Paziszenten
nicht Rechnung getragen und die Auseinandersetzung des engeren ungarischen Reichstages mit
dem kroatischen Landtag als eine interne Angelegenheit der Länder der
ungarischen Krone behandelt wurde. Sie erfolgte durch den ungarischen G.A.
XXX :1868 und den kroatischen G.A. 11868, den sogenannten ungarisch-kroatischen Ausgleich,
der zwar dem um den östeızeichischen Teil verkürzten Königreich Kroatien, Slavonien, Dalmatien
die äusseren Attributs eines Gliedstaates der Union der Länder der Stefanskrone verleiht,
die Bedingungen seiner wirtschaftlichen Entwicklung aber allenthalben unterbindet.
Der österreichische Reichsrat hat eine kurze Blütezeit er-
lebt, während deren er mittels des Staatsgrundgesetzes vom 21. Dezember 1867, betreffend die
Änderung des Grundgesetzes über die Reichsvertretung die fundamentale konstitu-
tionelle Organisation der nichtungarischen Ländergruppe, soweit für sie nach dem
ungarischen Ausgleich Raum blieb, die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen d«m Reichsrat und
den Landtagen vollzogen, mittels weiterer Staatsgrundgesetze und einfacher Gesetze
die Herstellung der durch das Konkordat vom 18. August 1855, wenn nicht verloren
gegangenen so mindestens erheblich geschmälerten staatlichen Souveränität gegenüber
derkatholischen Kirche herbeigeführt, und bedeutsame, leider nicht mehr fortgebildete
Ansätze zum Aufbau des Gemeinwesens auf rechtsstaatlicher Grundlage geschaffen
hat. Nach dieser Kraftleistung, der keine ebenbürtige mehr nachgefolgt ist, beginnt der Verfall
des parlamentarischen Lebens, den weder die erfolgreiche Abweisung des vom Grafen Hohen-
wart geförderten Versuchs der Wiederherstellung des böhmischen Staats
in der technisch nicht vollziehbaren Form der von einer Kommission des böhmischen Landtags im