Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

  
Karl Lamprecht, Staatsforn und Politik im Lichte der Geschichte. 29 
die Reizmassen, welche zur Entwicklung eines allgemeinen psychologischen Fortschrittes notwendig 
sind, von ganz anderer Seite herkommen. Dies ist zum Teil beispielsweise inder Entwicklung der italı- 
enischen Renaissance geschehen, und hierher gehört nun auch der Fall des Fortschrittes desdeutschen 
Seelenlebens um 1750. Die Reize, welche damals den Fortschritt bewirkten, kamen wesentlich aus 
der allmählich immer stärker werdenden Fortbewegung der durch den dreissigjährigen Krieg nur 
unterbrochenen, nicht aber ganz gestörten bürgerlichen Verhältnisse, aus der Behaglichkeit, welche 
diese Verhältnisse schufen und der damit gewährten Möglichkeit einer stärkeren geistigen Beschäf- 
tigung der Nation. Nun ist aber klar, dass in solchen Fällen, in denen die vorwärtstreibenden Reiz- 
massen von vornherein nicht wirtschaftlicher, sondern geistiger Natur sind, dementsprechend die 
nächsten Erscheinungen des sozialpsychologischen Lebens, die durch sie hervorgetrieben werden, 
von vornherein einen wesentlich geistigen, nicht wirtschaftlichen oder sozialen Charakter haben wer- 
den. Dies ist nun der entscheidende Punkt, dessen Klarstellung zum Verständnis der Vorgänge in 
der Entwicklung der modernen Kultur seit 1750 in Deutschland notwendig erfolgen muss. 
Das Eigentümliche ist unter diesen Umständen, dass das moderne Zeitalter auch auf poli- 
tischem und sozialem Gebiete alsbald mit einer ideologischen Erscheinung beginnt, und dass erst 
in einer zweiten Periode diesesZeitalters, die etwa um 1770 oder 80 einsetzt, sich daneben Wirkungen 
einer innerlichen, organischen, wirtschaftlichen undsozialen Umwälzung bemerkbar machen. Die sub- 
jektive Persönlichkeit wirkt sich mithin in der deutschen Geschichte zunächst nicht auf wirtschaft- 
lichem und sozialem Gebiete, sondern vielmehr auf den höheren geistigen Gebieten der Dichtung, 
der, Kunst und der Philosophie und dem Gebiete der praktischen Anwendung dieser Tätigkeiten 
aus und erst langsam geht sie von da auf das politische und schliesslich auch das kirchliche Ge- 
biet über. 
Unter diesen Umständen versteht sich, wenn wir nunmehr in die Entwicklung des Staats 
und der Staatskunst speziell dieser Zeit eintreten, dass zunächst nicht praktische Lösungen, sondern 
Theorien entstehen, und dass diese anfangs, wie z. B. bei dem jungen Schiller oder bei Fichte in 
einer gewissen Periode seines Lebens, ja sogar bei Kant in einen idealen Anarchismus auslaufen. 
Da soll im Staate vor allen Dingen die „Freiheit des Particuliers‘‘ gewahrt werden, und am besten 
scheint diese gewahrt, wenn überhaupt gar kein Staat besteht. Von diesen Vorgängen her ist es be- 
greiflich, dass, in einem zweiten Stadium der Entwicklung, vor allen Dingen die pädagogischen Frage 
eine Rolle spielen. Der Gedanke war dabei, dass, wenn man den Einzelmenschen nur richtig erziehe, 
sich dann als Produkt dieser Erziehungstätigkeit der richtige Staat von selbst einfinden werde. Und 
auch auf dem Gebiete der Erziehung ging man zunächst nicht von pädagogisch-praktischen Motiven 
aus, sondern — besonders ausgeprägt Schiller — von der Auffassung, dass die blosse Erkenntnis 
und das Ergreifen des Schönen ohne weiteres auch zu einer gefestigten subjektiven Sittlichkeit 
führen müsse, verlegte also den Kernpunkt der pädagogischen Fragen in die Ästhetik. Dem gegen- 
über war es dann ein bedeutender Fortschritt, als Pestalozzi in die Frage der eigentlichen praktischen 
Erziehung eintrat, und eben darum ist seine Lehre von so ausserordentlicher Bedeutung geworden. 
Allmählich, bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts näherte man sich darauf immer mehr wirklich 
politischen Fragen, und indem sie auftraten, ergab sich aus der früher schon auseinandergesetzten 
Notwendigkeit der Parteibildung alsbald die in der Natur der Dinge liegende Scheidung in ein kon- 
servatives und in ein liberales oder fortschrittliches Denken. Die Anfänge dieses Denkens lassen 
sich schon bei den patriotischen und politischen Schriftstellern ser 80er und 90er Jahre des 18. Jahr- 
hunderts deutlich verfolgen. Bis zu den Anfängen von Theorien, sei es konservativer, seien es fort- 
schrittlicher Anschauung, gelangte man dann etwa um 1800. Und praktisch machen sich die beiden 
Anschauungen erst in der Beurteilung und politischen Behandlung des ungeheuren Umschwungs 
geltend, den Deutschland durch das Eingreifen Frankreichs und die Tätigkeit des ersten Napoleons 
um diese Zeit erlebte. Bald darauf, in den stillen Jahren nach 1815, kommen dann die Zeiten, in 
denen Anfänge politischer Parteien da, wo in den Territorien sich ein Repräsentativsystem durch- 
gesetzt hatte, wahrnehmbar werden. Und auf diesem durchaus praktischen Boden erfolgt dann auch 
die erste eigentliche Programmbildung. Nach Lage der damaligen Verhältnisse waren für diese 
Programmbildung die Konservativen im Vorteil. Man muss immer bedenken, dass in diesen Zeiten 
weder die wirtschaftliche noch die soziale Lage in Deutschland von der der vergangenen Jahrhun-
	        
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