Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

498 Albrecht Mendelssohn Bartholdy, Ein- oder Zweikammersystem? 
die Fälle, in denen politische Parteigänger aus taktischen Gründen auf die höheren Stellen der Justiz 
und Verwaltung gesetzt werden. 
Bei einer solchen Regierungsform liegt das Problem: Ein- oder Zweikammersystem? dok- 
trinär wie praktisch verhältnismässig einfach. Doktrinär: denn die Notwendigkeit einer Kammer, 
deren Mehrheit vom Kabinett ebenso unabhängig ist, wie die Mehrheit der andern Kammer ab- 
hängig, liegt auf der Hand, sofern man nicht zur Kabinettsregierung Kabinettsjustiz und Kabinetts- 
patronage in unbeschränkter Gewalt haben will; dazu kommt, dass dem Kabinett selbst die Existenz 
der andern Kammer erwünscht sein muss, zur Wahrung des Scheins parlamentarischer Einflüsse 
auf die Regierung. Fiele nämlich jede Hemmung gegenüber dem Willen des Kabinetts und der 
ihm folgenden Volkshausmehrheit fort, so wäre dieser Mehrheit in der Vergewaltigung der Minder- 
heit schlechterdings kein Einhalt mehr zu gebieten und der Regierung jede Ausrede dafür genommen, 
dass nicht im ersten Jahr nach der allgemeinen Wahl schon schlechthin alle im Wahlkampf ver- 
sprochenen Massregeln zum Gesetz erhoben würden. Die Forderungen, die an eine solche Hemmungs- 
kammer ihrer Zusammensetzung nach zu stellen wären, gehen also in erster Linie auf die Unab- 
hängigkeit ihrer Mitglieder von der Parteimaschine, nebenher auf eine achtunggebietende Fähig- 
keit zur staatsmännischen Debatte und auf das Vorherrschen jener richterlichen Gesinnung (judi- 
cial mind), die den Schutz der Minoritäten besser als irgend ein Wahlsystem gewährleistet (denn 
auch das gerechtere Proportionalsystem gibt immer einer Partei oder Parteiengruppe die Mehrheit 
im Volkshaus und im Parlament selbst ist jede mechanische Berücksichtigung einer noch so starken 
Minderheit bei der Beschlussfassung unmöglich. Im besonderen ist für England zu bemerken, dass 
das Unterhaus, so gern es sich als Veste der Freiheit gibt, die schärfsten Geschäftsordnungsmittel 
gegen die Obstruktion hat, die überhaupt denkbar sind — die innere Ordnung ist fast ebenso ge- 
waltsam und streng, wie die Beschränkungen, denen der quivis ex populo unterworfen wird, wenn 
er sich einfallen lässt, die „Ööffentlichen‘‘ Verhandlungen des Unterhauses anhören zu wollen —; 
ferner, dass die von der Opposition eingebrachten Amendements zur Vetobill, die eine Mehrheit 
von bestimmter Grösse zu Verfassungsänderungen oder Beschlüssen über den Bestand des Reichs 
verlangten, schroff abgelehnt wurden, weil sie dem Geist des geltenden parlamentarischen Systems 
zuwidergingen. Andererseits kann ein Oberhaus immer seine Aufgabe darin erblicken, die Parteien 
des Volkshauses zu gesundem Kompromiss zu drängen, und besonders da, wo mehr als zwei Par- 
teien im Volkshaus vertreten sind, seine Zustimmung zu wichtigen Neuerungen zu versagen, in 
denen nicht wenigstens zwei grosse Unterhausparteien zusammenstimmen). 
So notwendig also doktrinär eine zweite Kammer beim englischen parlamentarischen System 
der Neuzeit ist, soklarist es andererseitspraktisch, dass aus diesem System selbst heraus dasKabinett, 
sobald ihm die zweite Kammer in richtiger Erfüllung ihrer Aufgabe die radikale Durchführung des 
Parteiprogramms und die rücksichtslose Handhabung der Patronage unmöglich macht oder er- 
schwert, seinerseits auf die Beseitigung dieser Hemmung bedacht sein wird. In dem Mass, in dem 
sich die Hemmung verstärkt, muss auch der Wille zu ihrer Beseitigung wachsen. Das ist in einem 
Satz die englische Verfassungsgeschichte der letzten Periode, in der sich aber auch die heutige 
Regierungsform eingerichtet und befestigt hat. (Im jetzigen Konflikt ist ohne Zweifel der stärkste 
und auch bei den Wählern am besten durehschlagende Grund der Oberhausgegner der, dass in den 
Jahren der konservativen Parteiregierung jene Aufgaben vom Oberhaus völlig vernachlässigt worden 
seien, während es sich auf sie besinne, sobald die liberale Parteiregierung beginnt. Das ist kein 
„fair play“. Aber sicherlich wäre die rechte Folgerung daraus, dass man ein Oberhaus zu bilden 
suchte, von dem man die Wahrnehmung seiner Pflichten gegenüber beiden Parteien und jeder 
Regierung gleichmässig erwarten könnte; und nur wer das für völlig unmöglich hielte, dürfte die 
Antiveto-Politik der jetzigen Regierung mitmachen.) Gladstone, hat begonnen, was von Campbell- 
Bannerman weitergeführt und jetzt von Asquith vollendet wird. Aber wenn das englische Ober- 
haus eine ebenso starke liberale Mehrheit gehabt hätte, wie es eine konservative hatte, so würde 
derselbe Kampf von den konservativen Kabinetten geführt worden sein, soweit sie überhaupt das 
jetzige Regierungssystem mitmachen. Denn sicherlich ist niemand (auch der absolute Monarch 
nicht) weniger geneigt und fähig, irgend eine Hemmung zu dulden, als eine kleine Oligarchie, die 
sich nur durch möglichst ungehemmte Gewalt im Amt erhalten kann.
	        
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