Albrecht Mendelssohn Bartholdy, Ein- oder Zwoikammersystem? 431
dieser Vorgänge (Festgabe für Laband I 97 fgde) heisst es: „Verminderung oder Vermehrung der
Befugnisse einer Kammer im Verhältnisse zu andern wird von der hierdurch betroffenen als per-
sönliche Zurücksetzung oder Besserstellung empfunden, während doch eine ruhig erwägende, im
Interesse des Staatsganzen entscheidende Politik niemals irgend ein Staatsorgan in seiner rechtlichen
Stellung als eine für sich, zu ihrem eigenen individuellen Zwecke berechtigte Macht wird anerkennen
dürfen. Daraus erklärt es sich, dass bei den jüngsten Verfassungsänderungen in Baden und Württem-
berg jede Kammer für ihre Zustimmung zum Verfassungswerk eine Gegenleistung von der andern
verlangte. Bei der Ausdehnung der finanzgesetzgeberischen Befugnisse der ersten Kammer wurde
immer nur die Erhöhung ihrer Machtstellung betont oder auf ihre veränderte Zusammensetzung
hingewiesen, die solche Erhöhung rechtfertigt, die Frage aber, welches System der parlamentarischen
Behandlung von Finanzvorlagen dem Staatsinteresse am zuträglichsten sei, nicht einmal aufge-
worfen.‘“ Zwar haben die Ereignisse eigentümlich rasch eine Behauptung widerlegt, die im gleichen
Aufsatz aufgestellt ist (S. 114: „In England mit seinen alten parlamentarischen Institutionen und
der damit verbundenen parlamentarischen Sitte, sind Kämpfe zwischen beiden Häusern, die den
rechtlichen Bestand der Staatsordnung selbst in Frage stellen, ganz ausgeschlossen‘), aber mit
seinem Schluss-Ausblick wird er wohl recht behalten: mehr und mehr werden, ausserhalb Englands,
die beiden Häuser auch in der Finanzgesetzgebung materiell gleichgestellt werden und nur die, an
sich gar nicht rationelle, Formalvorschrift der Priorität für die Budgetberatung der Volkskammer
wird bleiben.
Neben der eben geschilderten Bedeutung der ersten Kammern in der konstitutionellen
Monarchie als des Unparteiischen im möglichen Konflikt zwischen Regierung und Volksvertretung
beginnt aber eine andere Rechtfertigung des Zwei ystems sich in der Vorstellung der politisch
Denkenden zu befestigen, und sie kann ebenso für republikanische Staatsverfassungen gelten wie
für Monarchien.!) Je mehr nämlich in der längeren Praxis der modernen Parlamente sich das
Missverhältnis zwischen der Vertretungstheorie und der Wirklichkeit fühlbar macht, je mehr und
offenbarer sich zeigt, dass durch die Wahlkreiseinteilung, die absolute Mehrheitswahl oder irgend
ein Stichwahlsystem einerseits und durch die immer formalistischere starrere Gestaltung des Partei-
wesens andererseits das Spiegelbild des „Volkswillens“ im Parlament verfälscht wird, je kräftiger
der Gedanke der proportionalen Vertretung sich durchzusetzen strebt, desto näher wird auch die
Wünschbarkeit oder Notwendigkeit einer, der Sicherheit halber, doppelten Befragung des Volks
um seinen Willen gerückt. Wir bekommen zwei Kammern, die von derselben Wählerschaft, aber
in verschiedener Organisation des Wahlkörpers, zu verschiedener Zeit oder auf verschiedene Legis-
laturperioden gewählt sind. Das lässt sich so denken, dass die eine Kammer in allgemeiner Wahl,
die andere in ständischer Wahl gebildet wird, oder so dass die eine durch Mehrheitswahlen zustande
kommt, die andere aber durch Proportionalwahlen in wenigen grossen Wahlkreisen, letzteres die
Lösung der Home Rule Bill für die neue irische Verfassung. (Vgl. die Einzelheiten in meiner
Schrift über den irischen Senat, bes. S. 9 fgde. Dort ist auch das eigenartige skandinavische
System der Ausschüsse an Stelle erster Kammern gewürdigt.)
Für einen Konflikt zwischen zwei gewählten Kammern böte sich dann auch, wo man für das
Referendum noch nicht reif ist, als durchaus natürliche Lösung die „Durchstimmung“, die ja
schon für die jetzigen Zweikammerkonflikte teils verfassungsmässig vorgeschrieben ist, teils von
den Reformern empfohlen wird.?2) Man kann ihr jetzt noch mit Recht entgegenhalten, dass sie ein
roher und den Zufall anrufender Notbehelf ist, da schlechterdings jeder innere Grund und Mass-
stab für die Zahl der Mitglieder der einen und der andern Kammer fehlt. In dem Zukunftsbild
der beiden gewählten Kammern ist dagegen solch ein Massstab von selbst gegeben.
2) Esmein S. 93; Desplaces 357 f£. (suffrage & deux degr&s); Menger 230.
2) Konferenzen oder ein Vereinigungsverfahren, bei dem Depatationen der beiden Häuser zusammen-
kommen, sind häufig zur Lösung von Konflikten oder zur Verhütung unnötiger Schärfe im Konflikte sehr dien-
lich gewesen. In England eind sie im neunzehnten Jahrhundert nicht mehr so beliebt wie früher. In Deutschland
gibt Suchsen mit ihnen ein gutes Beispieci.