Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

Hermann Rehm, Wahlrecht. 435 
  
interesses kann sich anderes ergeben. Allgemeines Frauenstimmrecht bedeutet Schwächung 
des Ordnungsgedankens, denn die Zahl der Massenwähler steigt dadurch. In Ländern und 
in Zeiten, in denen beim katholischen Klerus die kurialistische Richtung überwiegt, bedeutet 
allgemeines Frauenwahlrecht mehr als Verdoppelung der die Kirche über den Staat stellenden 
Stimmen. Sozialethische Gründe (Hansfrauenflicht, Familienfriede) verbieten das Stimmrecht 
verheirateter Frauen. Jedenfalls muss das Frauenstimmrecht beschränkt oder, wenn allgemein, 
ungleich sein, soll das Sozialprinzip nicht zu sehr leiden. Das Gesamtinteresse ist gar nicht 
beachtet, wenn man sagt: Die Frau ist fühig genug auf dem Throne zu sitzen; dann muss 
sie auch fähig sein, das Wahlrecht zu haben. Dort handelt es sich um eine, hier um viele 
Frauen; das Staatsinteresse (die Sicherheit der Thronfolge) lässt dort Zulassung, hier Fern- 
haltung der Frauen als angemessen erscheinen. Keinen genügenden Gegengrund gegen das 
Frauenwahlrecht bildet, dass das Wahlrecht der Frau und der Töchter in vielen Fällen 
eine Kräftigung des politischen Einflusses von Mann und Vater bedeuten wird. Mehr als 
die Hälfte der Frauen ist unverheiratet, viele Töchter erwerbstätig und dadurch selbständig. 
Andrerseits liegt kein Hinderungsgrund für das Frauenwahlrecht in der mangelnden 
wilitärischen Dienstpflicht. Nicht geeignet zum Dienste bedeutet nicht auch ungeeignet 
zum Wählen. 
Politisches Freuenstimmrecht gilt in den Unionsstaaten Wyoming (schon seit 1869), 
Colorado, Utah (1895), Idaho (1896), Suddakota (1909), Washington (1910), Arizona, Kansas, 
Michigan, Oregon (1911), Californien (1912), ferner in Südaustralien, das der Haupt-Frauen- 
stimmrechts-Staat ist, und in Neuseeland (1895). In Finnland wurde es 1906 eingeführt. 
1911 haben es Island, der dänische Reichstag, Viktoria und Portugal beschlossen. In Nor- 
wegen besteht es seit 1907 überhaupt, seit 1913 in gleichem Umfange wie für Männer. 
1915 werden mit 230000 stimmberechtigten Männern 250000 stimmberechtige Frauen zur 
Wahlurne gehen. Am 17. März 1911 zog die erste Frau in das Storthing ein. In Finn- 
land sind von 132 Abgeordneten zurzeit 16 weiblichen Geschlechts. Kommunalwahlrecht 
besitzen die Frauen in Schweden seit 1910, in Norwegen seit 1907. Bis 1910 waren sie 
dabei in Norwegen durch den Steuerzensus schlechter gestellt als die Männer. 
In allen Ländern, wo das Frauenwuhlrecht eingeführt wnrde, handelt es sich um dünn 
bevölkerte Gebiete. Die Gefahren des Massenwahlrechts sind da geringer. In Finnland war 
man bereit, um auch die Familie zum Kampfe gegen die Unterdrücker zu gewinnen ; in 
Portugal, um die Frauen womöglich dem Einflusse des antirepublikanisch gesinnten Klerus 
zu entwinden. 
VI. Allgemeines und beschränktes Wahlrecht. Von allgemeinem 
Wahlrecht wird in der Praxis des Rechts und der Politik nicht erst gesprochen, wenn alle 
erwachsenen Staatsangehörigen zur Wahl zugelassen sind, sondern schon, wenn die Wahl- 
fähigkeit von weiteren Voraussetzungen abhängig ist, aber nur solchen, in deren Besitz der 
erwachsene Mann ohne besondere Schwierigkeit gelangen kann. Ist das Wahlrecht von 
ganz geringer direkter Steuer (50 Pfg.), mehrjähriger Staatsangehörigkeit und Ansässigkeit 
in Staat oder Wahlkreis abhängig, so spricht man trotz dieser Wahlkautelen doch noch von 
allgemeinem Wahlrecht. Dieses zerfällt daher in ganz (kautelenfreies) und gemässigt all- 
gemeines. Beschränktes Wahlrecht liegt vor, sobald das Wahlrecht an Voraussetzungen 
gebunden ist, die nicht bei jedem Erwachsenen leicht eintreten: nicht zu geringe direkte 
Steuer (Zensuswahlrecht), Bildung (Lesen und Schreiben), Haushalt. 
VIIL Gleiches und ungleiches Wahlrecht. Die gesetzliche und politische 
Praxis nennt gleich bereits ein Wahlrecht, bei dem für alle oder die allermeisten Wahl- 
fähigen die Wahlbefugnis von denselben Voraussetzungen abhängig ist. Richtiger Ansicht 
nach ist ein Wahlrecht schon ungleich, wenn für das Stimmgewicht zwischen den Wahl- 
kreisen mehr Unterschiede als Gleichheiten bestehen. Erst wenn auch die Wahlkreise in der 
Hauptsache gleich sind, ist auch das Wahlrecht gleich. Ungleiches Wahlrecht muss nicht 
parteiisch sein. Ungerecht, parteiisch ist es erst, wenn die Ungleichheit aus Sonder-(Partei-), 
nicht im. Staatsinteresse besteht. 
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