Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

Hermann Rehm, Wahlrecht. 437 
nur: die Klassen besitzen gleiche Wahlkraft (jede ein Drittel Wahlkraft). Die Klassen sind 
Wahlklassen. Die gleiche Wauhlkraft kann daher auch Klassen mit verschiedenem Steuer- 
gewichte verliehen werden. In Preussen ist es allerdings nicht der Fall. Es gilt Steuer- 
drittelung und zwar reine. Nur gleiche Steuerkraft besitzt gleiche Wahlkraft. Die auf den 
Abstimmungsbezirk (Urwahlbezirk) entfallende Gesamtsteuersumme wird auf die drei Klassen 
gleichmässig verteilt. Die Regierung wollte 1891 zwölfteln (/,, erste, %/,, zweite, 3/,, dritte 
Klasse), um zu verhindern, dass durch die damals eingeführte Progressivbesteuerung Wähler 
aus höheren in niedriegere Klassen herabgedrückt werden. Das Abgeordnetenhaus schlug zu 
dem gleichen Zwecke für die erste Klasse eine sog. Maximierung auf 2000 Mk. Steuer vor. 
D. h. es sollte eine Steigerung des Übergewichts des Reichtums dadurch gemindert werden, 
dass über eine bestimmte Summe hinaus die Steuerleistung ausser Anrechnung bleibt. Das 
Herrenhaus lelınte beide Vorschläge ab. Man einigte sich in der Wahlgesetznovelle vom 
29. !uni 1893 dahin, die Steigerung jenes Übergewichtes in der Weise abzuschwächen, 
dass nicht nur wie bisher die Gesamtsumme der direkten Staats-, sondern auch aller direkten 
Kommunalsteuern (an Gemeinde, Kreis, Provinz, Bezirk) der Drittelung zugrunde gelegt 
wurde. 
Die gescheiterte Wahlreform von 19?0 stellte sich zur Aufgabe, das preussische Wahl- 
recht aus einem Reichtums- und teilweise auch Proletarier-Wahlrecht in ein Mittelstands- 
Wahlrecht umzuwandeln. Was die proletarische Seite angeht, so hat das preussische Wahl- 
recht seit 1891 in den Grossstädten demokratische Begleiterscheinungen gezeitigt. Bis 1891 
erfolgte die Drittelung gemeindeweise. Zur Erleichterung der Wähler (Abkürzung des 
Weges) wurde 1891 die bezirksweise Drittelung, d. h. Bildung dreier Abteilungen schon 
für jeden Urwalhlbezirk eingeführt. Das bewirkte, dass in den Aussenbezirkeu der Gross- 
städte Leute mit ganz geringer Steuerleistung auch in höheren Klassen die Mehrheit er- 
langten und so den Mittelstand im Wahlkreise überwanden. Die Reform von 1910 wollte 
dem entgegenwirken durch Rückkehr zu grösseren Drittelungsgebieten. Das Übergewicht 
der Reichen sollte beseitigt werden: 1. durch Maximierung: bei jedem Wähler werden 
seine Steuern über eine Höchstgrenze (5000 Mk.) hinaus nicht mehr in Ansatz gebracht; 
2. durch Umbildung der Wahlklassen aus reinen Steuerklassen in Steuer- und Bildungs- 
klassen (Verbindung mit Kulturträgerwahlrecht.) Leute mit höherer Bildung, grösserer 
politischer Erfahrung und durch längeren öffentlichen Dienst erprobter Staategesinnung (sog. 
Kulturträger) sollten in eine höhere Wahlklasse eingereiht werden als die, in welche sie nach 
ihrer Steuersumme einzustellen wären. 
Andere Mittel zur Abschwächung des plutokratischen Charakters des Steuerklassen- 
Wahlrechts sind: 1. Modifikation der Einteilung durch das Wählerzahl-Moment: die erste 
und zweite Klasse muss nicht bloss eine bestimmte Steuersumme, sondern auch eine bestimmte 
Wählerzahl umfassen. Machen die, auf welche das erste Drittel der Steuersumme entfällt, 
nicht zugleich 1/, (ig, 1/;.) der Wahlbürgerschaft des Einteilungssprengels aus, so werden 
von den Nächstbesteuerten zur ersten Klasse so viele gezogen, bis diese Y/, (Vg, Y/ıs) der 
Wahlberechtigten umfasst. Die nächsten, die die Hälfte der verbleibenden Steuersumme auf- 
bringen, bilden die zweite Klasse, aber nur, wenn sie zugleich %/, (%,, #5) der Wahlberech- 
tigten umfassen; erreichen sie die Zahl nicht, so rücken entsprechend Niedrigstbesteuerte 
auf. Das System gilt für Gemeindewahlen in Baden und zwar seit der Gemeindeordnung 
vom 18. Okt. 1910 in Form der Sechstelung (1/,, 4, 3/8). _Selbstverständlich ist, dass bei 
Sechstelung die erste Klasse mehr Wähler umfassen muss, als bei Neuntelung oder Zwölfte- 
lung. Sechstelung schwächt also die Wahlkraft der Höchstbesteuerten stärker. In Preussen 
zeigt sich ein Ansatz dieser Modifikation insoferne, als seit 1891 jede nicht zur Staatsein- 
kommensteuer veranlagte Person als Dreimark-Wähler fingiert wird. Dadurch wurde die 
in der Progressivbesteuerung liegende Wahlbevorzugung der Reichen in etwas gedämpft, 
denn die Steuerfreien zählten jetzt bei der Berechnung des Steuerdrittels mit. 2. Die Mini- 
mierung. Sie bedeutet: für das Aufrücken in die höhere Wählerklasse ist ein Mindest- 
einkommen vorgeschrieben.
	        
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