36 Adolf Menzel. Begriff und Wesen des Staates.
scheint es auch zulässig, eine Idee vom Staate in Worte zu fassen, d. h. auszuführen, welche Merk-
male der Staat an sich tragen soll. Eine solche Betrachtungsweise muss sogar, vom kulturge-
schichtlichen Standpunkte, als höchst bedeutungsvoll bezeichnet werden. Derartige philosophische
Staatsbegriffe haben in der Geschichte der Menschheit eine wichtige Rolle gespielt. Dennoch sind
sie nicht geeignet, dem rein wissenschaftlichen Bedürfnisse Rechnung zu tragen, das auf die Er-
kenntnis der Wirklichkeit gerichtet ist. Dieses Bedürfnis kann nur durch Anwendung der induk-
tiven Methode erfüllt werden, also in der Weise, dass alle konkreten hierhergehörigen Erscheinungen,
wie sie uns die Weltgeschichte in einer überwältigenden Fülle darbietet, zusammengefasst werden.
Es muss der Versuch | gemacht werden, gemeinsame Merkmale aufzufinden und in einen abstrakten
Begriff zusammenzufassen.
Dieses methodische Prinzip wird zwar in der Gegenwart ziemlich allgemein anerkannt!)
allein in seiner praktischen Durchführung ergeben sich doch gewisse Schwierigkeiten. Zunächst
ereignet es sich nicht selten, dass in die Definition des Staatsbegriffes ein Merkmal Aufnahme findet,
welches, wenn auch vielleicht unbewusst,2) ein ideales Moment enthält. Wenn z. B. in einer der
neuesten Darstellungen der allgemeinen Staatslehre®) in die Definition des Staates der Satz auf-
genommen wird, dass der Staat den Schutz und die Beförderung der Interessen der Beherrschten
zu seinem Zwecke habe, so dürfte hier wohl eine Verwechslung zwischen den Kategorien des Seins
und des Sollens vorgenommen sein.t) Allein auch abgesehen von solchen dem empirischen Staats-
begriffe fremdartigen Zusätzen bietet die Anwendung der reinen Induktion noch manche Gefahren.
Es ist nämlich gar nicht so einfach, eine Abgrenzung des gewaltigen Materials vorzunehmen, wel-
ches einem empirischen Staatsbegriffe zugrunde gelegt werden soll. Jemehr Erscheinungen aus
dem Sozialleben der Menschheit für diesen Zweck herangezogen werden, jemehr der Forscher auch
die primitiven Kulturzustände mit in Betracht zieht, desto geringer wird naturgemäss die Zahl
der gemeinsamen Merkmale für den zu bildenden Staatsbegriff.*) Umgekehrt hat eine Ausschei-
dung aller gesellschaftlichen Bildungen, welche der Urzeit oder den nur halbzivilisierten Völkern
angehören, zur Folge, dass der Staatsbegriff schäıfer definiert, aber auch in seinem Geltungsbereiche
bedeutend eingeschränkt wird.
Eine weitere Gefahr ist darin gelegen, dass unter den Merkmalen des Staatsbegriffes nicht
selten ein einzelnes besonders hervorgehoben und zum entscheidenden Kriterium des Staatsbegriffes
erhoben wird, während es in Wirklichkeit entweder überhaupt nicht bei allen staatlichen Bildungen
festgestellt werden kann oder doch wenigstens nur in verkümmerter Gestalt vorzukommen pflegt.
Daraus erklären sich die grossen Meinungsverschiedenheiten, welche selbst noch in der Gegen-
wart in bezug auf das \Vesen des Staates bestehen, obwohl manche Irrtümer der älteren Staats-
lehre erkannt und vermieden worden sind.
’) Jellinek S. 130 ff unterscheidet eine objektive und eine subjektive Betraohtungsweise des
Staates, je nachdem die äusseren Vorgänge, welche sich in Zeit und Raum abspielen, oder die psyohisohen Akte,
welche mit dem staatliohen Handeln verbunden sind, der Forschung zu Grunde gelegt werden. Diese Untersohei-
dung ist nicht glücklioh formuliert. Jede wissenschaftliche Betrachtung muss objektiv sein; die psyohischen Vor-
gänge, welche mit dem Staatsleben zusammenhängen, müssen ebenso objektiv festgestellt: und verglichen werden,
als die Ausseren Geschehnisse. Subjektiv ist hingegen eine Untersuchung, wenn der Gesichtspunkt des Wertea
zugrunde gelegt wird.
*) Diese unbewusste Einwirkung von Zweok- und Wertgedanken ist ein oharakteristisohes Merkmal der
Sozialwissensohaften; vgl. meine Schrift „Natur- und Kulturwissenschaften‘‘ Leipzig 1903.
?) Loening a. a. O. Übrigens ist dieser Artikel eine der besten Darstellungen der allgemeinen Staatslehre,
*) Dass auch der organischen und der juristischen Staatstheorie ein ideales Moment zu Grunde liegt, wird
unten gezeigt werden. Die soziologische Staat thält ein nbgativee Ideal; sie malt den Staat
der Vergangenheit und der Gegenwart in den düstersten "Farben.
°) Dies ist die Verfahrungsweisse von Ed. Meyer a. a. O., weshalb er z. B. das Ge bie t nioht ala Begriffe-
merkmal des Staates anerkennt.