Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

Adolf‘ Menzel, Begriff und Wesen des Staates. RT) 
Richtungen es zu tun pflegen, von Übertreibungen nicht freigeblieben sind.’*) Dasselbe gilt auch 
von der bekannten These des wissenschaftlichen Sozialismus, welche im Staate lediglich einen 
Niederschlag der wirtschaftlichen Machtverhältnisse erblickt. Diese Theorie hat insofern eine 
innere Verwandtschaft mit der organischen Staatslehre, als sie die ganze politische Organisation 
als notwendige Folge sozialer und geschichtlicher Faktoren auffasst. Die praktisch-politischen 
Konsequenzen dieser Lehre sind freilich gänzlich verschieden von denjenigen der organischen Staats- 
auffassung, welche in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts vorgeherrscht hat. 
Die Lehren der historischen Schule sowie der Philosophen Schelling und Hegel vom „Staat 
als Organismus‘ waren zum grossen Teil gegen die naturrechtlichen Theorien gerichtet, welche den 
Staat als Kunstwerk, als Werk vernünftiger Überlegung angesehen und der Revolution das wissen- 
schaftliche Werkzeug geliefert haben. Die organische Auffassung sollte jeden gewaltsamen Eingriff 
in die bestehenden staatlichen Zustände, jede künstliche Ausgestaltung des politischen Lebens nach 
allgemeinen Idealen als naturwidrig und gefährlich bezeichnen; die organische Theorie dieser Zeit 
trägt daher einen entschieden konservativen Charakter an sich. Wenn die radikalen Soziologen 
der Gegenwart zu ganz anderen Folgerungen gelangen, indem sie eine gänzliche Umwälzung der 
bestehenden staatlichen Verhältnisse als Ziel verkündigen, so ist dies mit dem theoretischen Aus- 
gangspunkte, der Naturbedingtheit der politischen Organisation und der Einflusslosigkeit mensch- 
lichen Wollens im sozialen Organismus, schwer zu vereinigen. 
Die organische Theorie im engeren Sinne begnügt sich aber nicht damit, den Staat als not- 
wendiges Produkt bestimmter geschichtlicher, geographischer, ethnologischer und ökonomischer 
Faktoren hinzustellen, sondern sie sucht das Wesen des Staates dadurch zu erfassen, dass sie ihn 
als einen Organismus erklärt. Eine mächtige Förderung erhielt diese im Keime schon der antiken 
Staatslehre geläufige Vorstellung durch die grossartige Entwicklung der biologischen Wissenschaft 
im neunzehnten Jahrhundert. Ihre Ergebnisse auf die menschliche Gesellschaft anzuwenden war 
das Hauptbestreben namhafter Denker, welche den Ausbau einer besonderen Wissenschaft, der 
biologischen Soziologie, in Angriff genommen haben.!?) So anregend auch dieser Versuch für die 
Gesellschaftswissenschaft im allgemeinen gewirkt hat, so kann doch der Ertrag für die eigentliche 
Staatslehre nicht gerade hoch veranschlagt werden. Neben einigen wirklich vorhandenen Ahnlich- 
keiten, welche man zwischen dem Staate und einem physischen Organismus finden kann, wie in 
dem Zusammenwirken der verschiedenen Glieder auf Grund einer Arbeitsteilung, zeigen sich doch 
auch erhebliche Unterschiede zwischen einem gesellschaftlichen und einem physischen Organismus. 
Dies tritt namentlich hervor in dem Mangel eines körperlichen Zusammenhanges der einzelnen Teile 
und in der Unbestimmtheit der Abgrenzung sozialer Organisationen; dazu kommt, dass die Begriffe 
von Wachstum, Krankheit, Tod und Fortpflanzung nur in höchst gezwungener Weise auf die staat- 
lichen Organismen übertragen werden können. 
Die Vertreter der biologischen Richtung zeigen übrigens eine grosse Unsicherheit in bezug 
auf die Frage, ob die Gesellschaft oder der Staat als Organismus aufzufassen sei. Beides anzunehmen 
ist offenbar unmöglich, da sonst zwei verschiedene, dieselben Glieder umfassende oder mindestens 
sich teilweise deckonde Lebewesen konstruiert werden müssten, wofür die Pflanzen- und Tierwelt 
keine Analogie bietet. Daher entscheidet sich die Mehrzahl dieser Soziologen dafür, nur der Ge- 
sellschaft und nicht dem Staate die Eigenschaft eines Organismus zuzusprechen; der Staat selbst 
erscheint dann nur als besonderes Organ, z. B. als das Gehirn des gesellschaftlichen Organismus 
oder gar als Parasit desselben (Lester Ward). Von dieser Seite wird daher der Staatslehre kaum 
eine ernste Förderung zuteil. 
Unabhängig von dieser biologischen Richtung wurde die organische Theorie des Staates als 
eines geistig-sittlichen Organismus von dem Philosophen Krause und seinen Schülern, namentlich 
aber von dem grossen Germanisten Otto Gierke in einer Weise ausgestaltet, welche ihr zahlreiche 
16) Eine ganz neue Richtung, welcbe auch für die Staatslehre bedeutungevoll ist, hat K. Lamprecht ein- 
geschlagen, indem er in seiner „Deutschen Geschichte‘ die Abhängigkeit des jeweiligen Charakters der staatlichen 
Einrichtungen von dem nationalen Seelenleben, von der psychischen Grundstimmung des Zeitalters dargelegt hat. 
1?) Ihre Hauptvertreter sind: H. Spencer, P. von Lilienfeld, A. Schäffle, R. \Vorms.
	        
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