Adolf Menzel, Begriff und Wesen des Staates. 4
allerdings besonders wichtige Seite des Staatsbegriffes erfasst werde. Gemeinsam ist allen juristi-
schen Lehren vom Staate der Gedanke, dass zwischen ihm und den seiner Herrschergewalt unter-
worfenen Personen ein Rechtsverhältnis mit wechselseitigen Rechten und Pflichten bestehe, dass
auch der Herrscher Rechtsnormen unterworfen sei und dass er seine Gewalt nur im Namen des
Staates ausübe. Meist”) fällt diese Lehre zusammen mit der sogenannten Persönlichkeitstheorie,
der zufolge der Staat den Charakter einer juristischen Person besitzt, mag die Grundlage derselben
als natürliche Verbandseinheit (organische Theorie) oder als teleologische Einheit (Persönlichkeits-
theorie im engeren Sinne) formuliert werden.*)
Es ist nicht zu bezweifeln, dass diese juristische Staatstheorie den Vorstellungen durchaus
entspricht, welche die Kulturstaaten der Gegenwart beherrschen. Ob sie aber geeignet ist, die
Grundlage für eine allgemeine Theorie des Staates abzugeben, muss denn doch bezweifelt werden.
Der Nachweis, dass in Wirklichkeit zu allen Zeiten das Verhältnis zwischen der Staatsgewalt und
den Staatsbürgern den Charakter eines Rechtsverhältnisses besass, dass auch der Inhaber der
Herrschergewalt durch das Recht gebunden war, wird wohl schwerlich erbracht werden können.’”)
Den grossen Kulturstaaten des alten Orients ist der Gedanke offensichtlich ganz fremd, dass zwischen
dem Herrscher und den Untertanen ein Rechtsverhältnis bestehe. Aber auch die griechische Staaten-
welt und das römische Imperium enthalten nur schwache Spuren der rechtsstaatlichen Idee. In
der Staatslehre des Aristoteles, welche einen so hohen Rang in der Geschichte der politischen Wissen-
schaft einnimmt, wird man nur wenige Bemerkungen finden, welche als eine juristische Auffassung
des Staates gedeutet werden können. Soll man wirklich annehmen, dass diesem umfassenden Geiste
das entscheidende Merkmal des Staatsbegriffes völlig entgangen sei? Das ist höchst unwahrschein-
lich; vielmehr liegt es nahe zu vermuten, dass die wirkliche Staatenwelt, die er so gründlich erforscht
hatte, ihm keinen Anlass bot, den Staat als Rechtsbegriff zu erfassen.°®)
Wenn man dennoch an dieser juristischen Auffassung festhalten wollte, dann wäre man ge-
nötigt, den Geltungsbereich des Staatsbegriffes auf die heutige europäisch-amerikanische Staaten-
welt einzuschränken; es würde dann die grosse geschichtliche Entwi:klung bis zum Ende des acht-
zehnten Jahrhunderts herausfallen. Ein solches Verfahren kann aber vom wissenschaftlichen
Standpunkt nicht empfohlen werden. Unter diesen Umständen kann daher die juristische Formu-
lierung des Staatsbegriffes nur als eine historische Kategorie in der staatlichen Entwicklung, keines-
wegs aber als ein notwendiger Bestandteil des allgemeinen Staatsbegriffes aufgefasst werden. Wir
können also nur sagen, dass der Staat in der Gegenwart, vielleicht in der Zukunft, a u c h ein Rechts-
begriff sei.
V. Energetische Theorie.
Die juristische Theorie des Staates kann aber auch aus dem Grunde nicht als eine das
Wesen dieser Einrichtung erfassende Begriffsbestimmung angesehen werden, weil sie doch immer
25) Anders Loening a. a. O. Er erbliokt im Staate ein Reohtsverhältnis. Jellinek meint, dass es
nooh eine dritte Möglichkeit einer juristisohen Auffassung des Staates gebe, der Staat als Rechtsobjekt
(S. 157). Das ist ein Irrtum; hierin liegt eine Negation von Rechtsbeziehungen zwisohen dem Herrscher und den
Beherrsobten.
2%) Gegen die Konstruktion des Staates als juristische Person erklärt sich mit beachtenswerten Ar-
gumenten Otto Mayer in der oben zitierten Festschrift; vgl. auch Dugnit a. a. O
7) Loening anerkennt S. 694, dass in der absoluten Monarchie der Herrscher geine Gewalt reohtlich un-
beschränkt auszuüben hat. Bezüglich Russlands bemerkt er S. 720, dass hier bis 1905 die reine Form der unbe-
sohränkten Monarchie bestand; nioht einmal die Thronfolge-Ordnung habe den Kaiser gebunden. Wie stimmt es
aber damit, dass (S. 704) der Staat stets ein Rechtsverhältnis zwischen dem Inhaber der Gewalt und der Boherrsch-
ten sei, dass (S. 713) auch der Herrscher dem Reohte unterworfen sei? War also denn Russland bis 1905 kein Staat ?
22) Jellinek erklärt einmal (S. 361) es als eine historisahe Frage, ob der Staat durch das Recht ge-
bunden sei. Das ist ganz richtig, aber im Widerspruch mit seiner Darstellung auf S. 132 ff, wonach der Staat stets
ein Reohtsbegriff sei, „Die juristische Erkenntnis des Staates hat zum Gegenstande die Erkenntnis der vom
Staate ausgehenden, seine Institute un. Funktionen zu Icherrschen bestimmten Rechtsnormen.‘‘ (S. 132.)