42 Adolf Menzel, Begriff und Wesen des Staates.
den Staat nur als eine gedankliche Operation, als eine zu bestimmten Zwecken vorgenommene
Synthese erfasst.©2) Wenn wir nun aber in Erwägung ziehen, dass die ganze Weltgeschichte er-
füllt ist von den Wirkungen, welche die staatlichen Verbindungen der Menschen nach aussen und
im Innern ausgeübt haben, so ist der Gedanke unabweislich, dass wir es beim Staate mit einer
Realität, mit einer der Welt des Seins angehörigen Erscheinung zu tun haben. Die organische
Theorie hat dies richtig herausgefühlt, aber eine Erklärung versucht, welche nicht vollkommen be-
friedigt, da für eine Reihe von staatlichen Gebilden die Konstruktion eines Gesamtwillens aus der
Vereinigung der Einzelwillen kein Abbild der Wirklichkeit darstellt. Es muss also ein anderer
Weg gesucht werden, welcher dahin führt, die reale Natur des Staates so zu beschreiben, dass alle
im Laufe der Weltgeschiohte auftauchenden staatlichen Verbindungen der Menschen dadurch
erfasst werden können.
In dem Begriffe der Energie, wie ihn die moderne Naturwissenschaft ausgebildet hat,
dürfte dieses Ziel annäherungsweise erreicht werden. Dieser Begriff beschränkt sich nicht auf die
mechanischen und chemischen Kräfte, sondern hat bereits in der Biologie seine Anwendung ge-
funden in der viel geschmähten, aber doch uneotbehrlichen Lebenskraft. Dieselbe setzt sich aller-
dings in letzter Linie aus mechanischen und chemischen Kräften zusammen, bildet aber doch eine
eigenartige, von diesen Elementen verschiedene, höhere Gestaltung der Energie. Es steht nichts
im Wege, eine neue Erscheinungsform, die soziale Energieals die Ursache aller jener Wirkungen zu
bezeichnen. welche aus einer eigentümlichen Zusammenfassung biologischer Energien hervorgeht.
In der Tat ist es nicht zu bezweifeln, dass wir es beim Staate mit einer Kraft-Erscheinung zu tun
haben,?) deren Elemente zwar in den physischen und psychischen Energien der einzelnen zum
Staate gehörigen Menschen gegeben sind, welche aber doch verschieden ist von einer blossen Sum-
mierung dieser Kräfte. Schon der Umstand, dass die Komponenten dieser Gesamtkraft im stän-
digen Wechsel begriffen sind, während diese einen dauernden Charakter an sich trägt, bezeugt die
Selbständigkeit der aus dem Zusammenwirken hervorgehenden Energie.
Indem die einzelnen, staatlich vereinigten Menschen physische, ökonomische, geistige und
moralische Kräfte dem Ganzen, das wir Staat nennen, zur Verfügung stellen, hören sie aber duroh-
aus nicht auf, selbständige Kraft-Zentren zu bilden. Dadurch entsteht eine eirentümliche Wechsel-
wirkung zwischen der zur Selbständigkeit erhobenen Gesamtenergie und den Einzelkräften, welche
das ständige Reservoir der Gesamtkraft darstellen. Es können daraus Gegensätze und Reibungen
entstehen, für welche der physische Organismus kein Vorbild abgeben kann, weil hier von vorn-
herein alles auf ein geordnetes Zusammenwirken abgestellt ist. Die Tatsache, der zufolge die ein-
zelnen Staatsglieder einen Teil ihrer Kräfte und Leistungen dem Staate zur Verfügung stellen,
2%) Daher dürfte auch die vom methodologischen Standpunkte interessante Ausführung Max Webers
im Archiv für Sozialpolitik Bd. 19, S.7:1), derzufolge der Staat nureinegedankliohe Synthese vonHand-
lungen «!er Mensohen bedeute, <’erm Wesen des Staates nicht gerecht werden. Dann wäre der letztere abhängig von
den jeweiligen, unter sich vers ‚hiedenen Vorstellungen, welche die Menschen sich vom Staate bilden; so richtig
Loening S. 701. Allein auol dieser Schriftsteller bleibt im Bereiche der blossen Vorstellung vom Staate, wenn er
ihn als Rechtev: rhältnis bezeichnet. Durch die Hinzufügung des Beiwortes „real‘‘ hört dasselbe nicht auf, etwas
bloss Gedachtes zu bilden.
0) Der Hauptvertreter der modernen Energetik, W. Ostwald, hat in seinem Werke „Die energetischen
Grundlagen der Kulturwissenschaft‘ (1909) das 12. Kapitel der Betrachtung des Staates gewidmet („der Staat und
seine Gewult‘‘). Der erwartungsvolle Leser erfährt dabei eine gewisse Enttäuschung. Hier wird von der Bedeutung
ler Kriegsheere und von der Konzentration des Geldkapitals gesprochen; jener Staat sei am mächtigsten, welcher
über die beste Armee und über das meiste Geld verfüge (S. 169 ff). Dass das heilige Römische Reioh zu Grunde
gegangen ist, weil cs keine zusammengefusste Energie darstellte (S. 160), dürfte schwerliob als eine neue Auffassung
bezeichnet werden können. Auch was Ostwald S. 110 über die Lehre Rousseaus vorbringt, zeigt, dass er auf dem
Gebiet‘ der Staatslohre nicht genügend orientiert ist. Spuren der energetischen Auffassung des Staates finden sioh
schon bei Spinoza, dessen Lehre vom Staatsvertrage, wie ich an anderer Stelle gezeigt habe, keinen juristischen,
sondern einen realpaychologischn Charakter an sich trägt. Vgl. meine Abhandlung in Grünhuts Zeitschrift Bd. 34
8. 451 und jetzt Rosin in der Festsohrift für Gierke „Bismarok und Spinoza“ 5. 383 ff.