Adolf Menzel, Begriff und Wesen des Staates. 48
kann verschiedene Ursachen haben. Sie kann einfach die Folge eines urwüchsigen Instinktes sein,
wie er schon in den sog. Tierstaaten zum Ausdruck kommt. Es kann das Gefühl der Furcht vor
einer höheren göttlichen oder menschlichen Gewalt, es kann das Gefühl der Liebe zum Herrscher
oder zum genossenschaftlichen Verbande ausschlaggebend sein; es kann die Gewohnheit oder ein-
fach die Indolenz dieses Verhalten der Menschen herbeiführen; es kann schliesslich vernünftige
Erwägung, bewusste Reflexion denselben Effekt haben.”)
ie so gesammelten, sachlichen und persönlichen Dienstleistungen führen zu dauernden
Einrichtungen, in welchen die Gesamtkraft ihren Ausdruck findet. Dabei ist es durchaus nicht
notwendig, dass j jene Menschen, welche als Glieder des Staatsverbandes die Quellen für diese höhere
Energie darstellen, auch die Verfügung über dieselbe ganz oder teilweise besitzen. In den despoti-
schen Staatsformen tritt dies am klarsten hervor; aber auch in den zivilisierten Staatsformen ist
die Verfügungsgewalt keineswegs so geordnet, dass sie gleichmässig auf diejenigen verteilt ist,
welche ihre Kräfte zur Bildung der Gesamtenergie zur Verfügung stellen. Zum Begriffe des Rechts-
staates genügt es vollkommen, wenn allgemeine Regeln darüber bestehen, unter welchen Voraus-
setzungen von den einzelnen Bürgern Leistungen für den Staat in Anspruch genommen werden
können und darüber, welche Personen berechtigt sind, über die geschaffene Gesamtkraft zu ver-
fügen. Erst die Ziehung solcher Grenzen bewirkt, dass das Verhältnis der Einzelnen zum Staate
durch Rechtsregeln bestimmt wird; erst unter dieser Voraussetzung wird der Staat auch zum Rechts-
begriffe, ohne damit seine wahre Natur zu ändern, nämlich seinen energetischen Charakter. Dar-
nach erscheint der Staat als die Gesamtheit der Einrichtungen, welche
dazu dienen, die Kollektivkraft eines Volkes zu bilden und über
siezu verfügen.
VI. Die Lehre vom Staatszweck.
In einem Handbuche der Politik darf eine prinzipielle Erörterung über den Staatszweck
nicht fehlen.) Da finden wir zunächst die auffallende Erscheinung, dass manche Autoren die
Berechtigung der Frage nach dem Staatszwecke überhaupt in Abrede stellen. In dieser Auffassung
begegnen sich merkwürdigerweise einzelne begeisterte Apostel der Staatsidee mit radikalen Gegnern
derselben. Wer in dem Staate eine göttliche Einrichtung erblickt, wer auch nur annimmt,
derselbe eine Verkörperung der sittlichen Idee oder eine Inkarnation der Vernunft bedeute, wird
leicht geneigt sein, die Frage nach dem Zwecke des Staates als eine Herabwürdigung dieser erhabenen
Institution, mindestens als eine überflüssige Problemstellung zu bezeichnen. Umgekehrt behaupten
die Vertreter der soziologisohen Staatsidee, namentlich aber die Theoretiker des Sozialismus und
Anarchismus, dass der Staat überhaupt oder mindestens der Staat in der bisherigen Geschichts-
entwicklung als nackte Klassenherrschaft keinen besonderen Zweckgedanken zum Ausdruck bringe.
Er sei ein Fabelwesen; in Wirklichkeit handelt es sich dabei immer nur um die egoistischen Zwecke
der herrschenden Gesellschaftsgruppen .*)
9) Eine gewisse Verwandtschaft hat die hier angedeutete Auffassung des Staates mit der Lehre Berolz-
heimers. Er erblickt (a.8.0.S. 23, 24) im Staate den rechtsartifiziellen Grund- Kraftquell. Kraft ist, was Wirkung
tatsächlich verursacht; ertifiziell ist jene Kraft, die mit
wird. Die staatlich organisierte Menschheit weist gegenüber der vorstastlichen Gruppengemeinschaft ein Plus
en Kraft auf. Dieser Kraftgewinn erfolgt aber nioht durch bewusst planmässiges Handeln, vielmehr regelmässig
durch religiöse Illusion (S. 57). Dazu möchte ioh, eingehende Auseinandersetzung vorbehalten, kurz be-
merken, dass die religiöse Illusion für die Anfänger des Staatslebens gewiss höchst bedeutungsvoll erscheint, aber
später durch andere psyohologische Momente ersetzt wird. Auclı würde der Staat richtiger nicht als Kraft-
q u e I L, e zu _bezeiohnen sein (denn ( die Quelle der erhöhten Kraft liegt immer in dem einzelnen Menschen), viel,
ft des Volkes, bei deren Bildung und O: j
wie ich im Gegensstze zu Berolzbeimer glaube, nur eine selkundäre Rolle spielt. Jedenfalls verdienen die originellen
Darlegungen des genannten Schriftstellers vollste Beachtu
Dass diese Frage für eine sein juristische Betr: \chtung des Staates keine Bedeutung besitzt, hebt treffend
hervor Bernatzik a. a. O. S, 235, 241
®) So bes. A. Menger a. a. O. S. 201: „Die Staaten als solche haben gar keinen Zweck, sondern nur ihre
Machthaber.“