60 Hans v. Frisch, Die Aufgaben des Staates in geschichtiicher Entwickelung.
Die teleologische Betrachtungsweise geht bei Aristoteles noch weiter als auf die staat-
liche Gemeinschaft als solche; er bringt auch die einzelnen Staatsformen unter diesen Gesichts-
punkt, die er nach dem Zweck, den die Regierenden mit der Herrschaft verbinden, unterscheidet.
Jene Monarchie, in der die Herrschaft zum allgemeinen Besten geführt wird, gehört zu den
guten Staatsformen und heisst Königtum; jene hingegen, die der Monarch nur zuseinemeigenen
Vorteil führt, ist eine schlechte Staatsform, eine Ausartung des Königtums, die Tyrannis. Ebenso
ist die Herrschaft einer kleinen Zahl von Bürgern, wenn ihr Zweck das Beste des Staates und seiner
Angehörigen ist, eine gute Staatsform, die Aristokratie, während ihre Ausartung, die Oligarchie,
nur den Vorteil der Reichen im Auge hat. Endlich nennt Aristoteles die Regierung durch
das gesamte Volk, solange sie das Gemeinwohl bezweckt, Politie, ihre Ausartung, die nur das Beste
der Armen zum Ziel hat, Demokratie.!:) Das gemeinsame Unterscheidungsmerkmal ist also der
Zweck, den die Herrschenden mit der Regierung zu erreichen streben. Nur die salus publica
kann Aufgabe eines gesunden Staatswesens sein, wie immer es Tegiert werde.
Plato und Aristoteles stimmen also darin überein, dass sie ihren Staaten ideale
Zwecke setzen, im einzelnen aber weichen sie, zum Teil in wesentlichen Punkten, von einander ab.
Welch ausserordentlich weite und dabei unbestimmte Aufgabe sie aber dem Staate mit der Ver-
wirklichung des Sittengesetzes stellen, darüber haben sie sich wohl kaum Rechenschaft gegeben.
ber Aristoteles kam die Staatslehre des klassischen Altertums nicht hinaus. Was
andere griechische Philosophen und deren Schulen hier geleistet haben, enthält keine
Weiterbildung der von den beiden hervorragenden Geistern begründeten Wissenschaft; ins-
besondere Aristoteles hat hier, ähnlich wie in den Naturwissenschaften durch seine für
unerschütterlich geltende Autorität Jahrhunderte hindurch jeden Fortschritt gehemmt. Gerade
in der Staatslehre zeigt sich diese verderbliche Wirkung sehr deutlich, denn seine Definitionen,
Begriffsbestimmungen, Einteilungen usw. wurden zum Teil bis tief ins Mittelalter hinein kritiklos
als nicht anzuzweifelnde Wahrheiten hingenommen.
Die Römer hinterliessen uns nur dürftige theoretische Betrachtungen über den
Staat. Die einzige Staatsdefinition, die uns von ihnen erhalten ist, die Ciceros®) enthält kein
teleologisches Merkmal. Zwar finden sich bei Cicero wie auch bei anderen Schriftstellern ein-
zelne Andeutungen über den Staatszweck, aber ohne nähere Begründung und Ausführung; salus
populi suprema lex!*) galt als politisches Prinzip, mit dessen theoretischer Begründung man sich
ebensowenig abgab wie mit der Bestimmung dessen, worin die salus populi bestehe; vielleicht kann
man darin auch eine Bestätigung für den gesunden, politischen Sinn der Römer sehen, die wussten,
dass eine Inhaltsbestimmung des Begriffes sich ins Grenzenlose verlieren müsse und keine prak-
tische Bedeutung haben könne. Jedenfalls lässt sich aus dieser und anderen trivialen Wahrheiten
weder bei Cicero noch sonst bei den Römern eine wissenschaftlich fundierte Ansicht über den Staats-
zweck herauslesen. Überdies standen sie zumeist allzusehr im Banne des Aristoteles,
als dass sie selbständig originelle Ideen von wissenschaftlichem Wert hätten aufstellen können.
2. Augustinus. Thomasvon Aquino.
Neue Ideen kamen in die staatswissenschaftliche Literatur durch die christlichen
Schriftsteller. Dem Zweckproblem hat die christliche Theologie von vornherein grossen Wert
beigelegt, was ja schon im Wesen einer Lehre liegt, die dem Jenseits so hohe Bedeutung beimisst.
ugustinus, dessen Lehre von der Unterordnung des Staates unter die Kirche für
das ganze Mittelalter vorbildlich wurde, scheidet streng den irdischen vom himmlischen Staat und
schreibt beiden ursprünglich getrennte Zwecke zu. Die civitas terrena, aus verbrecherischen Motiven
entstanden, kennt als den ihr immanenten Zweck nur die felicitas terrena, die irdische Glückselig-
keit, der durch Friedensbewahrung erreicht wird. Die irdischen Staaten aber, die nur dieses Ziel
verfolgen. müssen von Gott abfallen und zur civitas Diaboli werden, die niemals Frieden und
!2) Polisik, III. 7.
13) Do rep I. 26.
Cicero, De legibus III. cap. 3. $ 8: „militaie summum jus habento, nemini parento; ollis
populi suprema lex esto.“ Abnlich: Ad Attikumm VIIL 11. $ 1.