58 Hansv. Frisch, Die Aufgaben des Staates in geschichtlicher Entwickelung.
verlangen, heisst ihn verpflichten, die Rechte jedes Einzelnen zu schützen und zu achten, die Wohl-
fahrt von ihm verlangen, heisst ihn auffordern, die Rechte der Einzelnen zu verletzen nn
Ahrens“) nennt das Recht die „Fundamentalidee, welche dem Ursprung und Entfaltungs-
prozesse des Staats vorsteht.“®) Ähnlich Welcker.®) -
Allen Vertretern der Rechtsidee ist gemeinsam, dass sie die fürsorgende Tätigkeit des Staates
auf ein Minimum reduzieren wollen: der Rechtszweck allein soll die staatliche Tätigkeit bestimmen.
Die Vertreter des Liberalismus im 19. Jahrhundert haben diese Theorie zwar etwas abgeschwächt,
lassen aber immerhin nur das Notwendigste an fürsorgender Tätigkeit des Staates zu.
In neuerer Zeit wird mit dem Worte „Rechtsstaat“ noch ein anderer Sinn verbunden; man
meint damit nicht so schr den Zweck des Staates als vielmehr dessen inneren Ausbau,
namentlich die Bindung der staatlichen Verwaltungstätigkeit an Gesetze, die für alles Handeln
des Staates zugleich Schranke sein sollen; nicht mehr die Zweckmässigkeit allein, sondern auch
das Recht soll für die Verwaltung massgebend sein. Auch diese Formulierung des Begriffes ist
nicht neu; die „Herrschaft des Gesetzes‘ ist vielmehr eine Forderung, die seit Hobbes®) und
Rousseau“) wiederholt in der Literatur gestellt worden ist; in neuerer Zeit haben sich nament-
lich Juristen der Frage zugewandt.*) —
4. Relative Zwecktheorien.
Sehr mannigfaltig sind die relativen Zwecktheorien, die von Juristen und Philosophen,
in neuerer Zeit auch von Nationalökonomen aufgestellt wurden; sie tragen der Zeit und dem ein-
zelnen staatlichen Individuum Rechnung und weichen oft nur in nebensächlichen Punkten von
einander ab. Hier seien einige derselben aus dem 19. Jahrhundert beispielsweise erwähnt.
Zöpfl geht bei Bestimmung des Staatszweckes aus vom Staate als dem natur- und ver-
nunftnotwendigen Zustande, ‚in welchem allein das gesamte Volksleben zu einer geschichtlichen
Entwicklung kommen soll und kommen kann.“®) Die Überwindung der dieser Entwicklung ent-
gegenstehenden Hindernisse ist ein Gemeininteresse der Menschheit, denn der Mensch als Sozial-
wesen kann seine Zwecke nur in völkerschaftlicher Verbindung mit anderen erreichen. Dies nicht
nur durch Erhaltung eines geordneten Rechtszustandes, sondern auch durch „Bewirkung solcher
Einrichtungen und Anstalten, deren Beschaffung ausserhalb der Kraft des Individuums liegt‘,
anzustreben, ist die Aufgabe des Staates. — Bluntschli) nennt als Hauptzweck des Staates
das öffentliche \ohl, präzisiert diesen Begriff aber, um die Nachteile der eudaimonistischen Theorie
zu vermeiden, dahin, dass er darunter die Entwicklung der Volksanlage und Vervollkommnung
des Volkslebens versteht, die jedoch nicht im Widerspruch stehen dürfe mit der Bestimmun g
@) Das Naturrecht. (2. Aufl. 1846) S. 118.
*) Vergl. ferner Eötvös, Der Einfluss der herrschenden Ideen des 19. Jahrhunderts auf den Staat.
UI. S. 97 ff., der Sicherheit als Staatszweck angibt, darunter aber sehr Verschiedenes versteht. — Weitere Literatur
über den Rechts weck bei Zachariae, Deutsches Starnts- und Bundesrecht I. (1853) S. 39.
9) Art. „Staatsverfassung“ inv. Rotteck u. Weloker’s Staatslexikon. XII. (1848) S. 366.
®) De oive, XII. 15: „Libertas civium non in eo sita est, ut legibus eivitatis exempti sint, vel ut
ii qui eivitatissummam potesta:eın habent, non possint leges ferre quascunque volent. Sed quoniom omnes motus
e: actiones eiv:um leg:bus nunquam eircumser ptae sunt, neque circumscribi propter varietatem possunt, necesse
est, ut infin ta pene sint, quae neque jubentur, nequ> probibentur; sed facere vol non facere suo quisque arbitrio
potest ...... “ Ferner: Leviathanll.21(A.R. Waller Cambridge, 1904) S. 155: „As for other Lyber-
ties, they depend on the Silence of the Law. In cases where the soveraign has preseribed no rule, there the
Subject h hath the Liberty to do, or forbeare, according to his own disoretion.“
Contrat social II. 6. Insb:sondere: „J’appe le done röpubliqu> tout Etat, rögi par des lois,
sous quoldus forme d’administration que <e puisse ötre: car alors seulement Pinteröt publio zouverne, et la ohose
publique ı est quelque ohose. Tout gouvernement lögitime e:t republicain ..
Vergl. z. B. Bähr, Der Rechtsstaat (1864) v. Holtzendorff, Politik, S. 213f. Gneist,
Der Rechtsstaat. Jellinek, Gesetz und Verordnung, S. 242 f. Laband, Stastserecht des Deutschen
Reiches II. S. 172f. 0. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht I. S. 53 ff. u. a,
“) Grundsätze des allgemeinen und deut-chen Staatsrechte. (4. Aufl.) 1865. I. S. 42.
®) Allgemeine Staatslehre (5. Aufl.) 1875 S. 358 ff. Etwas abweiohend devon bei Bluntsohliund
Breter, Deutsches Staatswörterbuoh IX. (1865) 9. 624 (Art. „Staat“).