Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

Hans v. Frisch, Die Aufgaben des Staates in geschichtlicher Entwickelung. 59 
  
der Menschheit. Damit scheint mir allerdings nicht viel gewonnen zu sein, da es 
eine objektive Feststellung, was Bestimmung der Menschheit sein soll, nicht gibt, der Will- 
kür des Staates also doch wieder Tür und Tor geöffnet wäre. — Robert v.Mohlnimmt 
die Zweckbestimmung in seine Staatsdefinition auf. Er sagt:“) „Der Staat ist ein dauernder, ein- 
heitlicher Organismus derjenigen Einrichtungen, welche, geleitet durch einen Gesamtwillen sowie 
aufrecht erhalten und durchgeführt durch eine Gesamtkraft, die Aufgabe haben, die jeweiligen 
erlaubten Lebenszwecke eines bestimmten und räumlich abgesrenzten Volkes, und zwar vom ein- 
zelnen bis zur Gesellschaft, zu fördern, soweit von den Betreffenden dieselben nicht mit eigenen 
Kräften befriedigt werden können und sie Gegenstand eines gemeinsamen Bedürfnisses sind.‘ 
Die hier dem Staate zugeschriebenen Gemeinzwecke sollen also auf Grund der Kenntnis des ein- 
zelnen Volkes bestimmt werden. Der Begriff der „erlaubten Lebenszwecke“ ist allerdings ziemlich 
unbestimmt.®) — v. Holtzendor ft ?0) unterscheidet einen dreifachen Staatszweck: den 
(nationalen) Machtzweck, den (individuellen) Freiheits- oder Rechtszweck und den (gesellschaft- 
lichen) Kulturzweck. Der Machtzweck ist der ursprünglichste und natürlichste, der sich seit jeher 
überall im Volksbewusstsein behauptet hat. Unter dem Rechtszweck versteht v. Holtzen- 
dorff.die „in festen Formen zu bewirkende Sicherstellung der persönlich freien Entwiekelung 
des Menschen innerhalb der der Staatsgewalt nicht notwendig vorzubehaltenden Tätigkeitsgebiete.‘“ 
Den Kulturzweck bestimmt er als „die Bewahrung des gesellschaftlichen, vornehmlich wirtschaft- 
lichen und konfessionellen Friedens.‘ 
Haenel unterscheidet eine zweifache Aufgabe des Staates.) Zunächst den Rechtszweck; 
der Staat setzt sich die Aufgabe, das Recht den Kulturaufgaben des Volkes in allen seinen einzelnen 
Elementen anzupassen, entweder durch eigene Rechtserzeugung oder durch Feststellung der Be- 
dingungen, ünter denen das nicht staatlich erzeugte Recht von ihm anerkannt und geschützt wird. 
Ausserdem aber will der Staat auch an der Kulturentwicklung des Volkes als selbsttätiges Element 
mitwirken. Für diese Kulturentwicklung „erfüllt er überall durch seine Ordnungen, Verrichtungen 
und Veranstaltungen solche Bedingungen, welche nur durch eine zentralisierte Tätigkeit in plan- 
mässiger Leitung verwirklicht werden können, sei es dass ohne sie gewisse Kulturaufgaben über- 
haupt nicht oder doch nur unter Verschwendung zersplitterter Kräfte erreichbar sind.“ Zu allen 
Lebenszwecken, die der gesellschaftlichen Erarbeitung und Bearbeitung fähig und bedürftig sind, 
tritt der Staat in Beziehung; er bringt sie alle in ein gewisses Abhängigkeitsverhältnis zu seinem 
Gemeinzweck, der also in diesem Sinne universell ist. 
Nach der merkwürdigen, unter dem Namen „Herrschertheorie“ bekannten Lehre v. Sey- 
dels hat der Staat den Zweck, die Gesamtinteressen der in ihm vereinigten Menschen zu ver- 
folgen.) Der Satz: salus populi suprema lex ist eine natürliche (keine rechtliche) Schranke für 
den Herrscherwillen; der Herrscher hat also nicht individuelle Interessen sondern die der Staats- 
angehörigen wahrzunehmen. Auf nähere Ausführungen lässt sich der Verfasser nicht ein. — 
Rehm deduziert den Zweck des Staates aus seinem Wesen als einer Gemeinschaft, die 
bestimmte Interessen hat.”) „Schutz und Pflege der Gesamtinteressen der Staatsgenossen ist, 
ganz allgemein gesprochen, der Zweck des Staates.‘‘ Die weiteren Erörterungen über die Frage 
verweist Rehm aus der Staatslehre in die Politik. 
Aus der neuesten juristischen Literatur über den Staatszweck sei noch K ra b be’«) hervor- 
gehoben. Die Aufgabe des Staates ist die Realisierung des „Gemeinschaftszweckes“; unter diesem 
ist die Sorge für das persönliche Leben der Menschen zu verstehen. Ohne Ordnung des Rechts ist 
aber die Verwirklichung dieses Zweckes nicht denkbar; deshalb ist im Gemeinschaftszweck primär 
die Rechtsver g ‚ die Genuss folgt daraus nur alssekundärer Zw.ck. 
%) Enzyklopädie der Staatswissenschaften. (2. Aufl.) 1872 S qı. 
“) Vergl. auch v. Mohl, Die Polizeiwissenschaft. I. S. 3 ff. 
%) Prinzipien der Politik. (2. Aufl.) 1879. S. 232 ff. 
71) Deutsches Staaterecht. IL. 8. 109 ff. 
%) Grundzüge einer allgemeinen Staatslehre. S. 8. 
’2) Allgemeine Stastslehre, im Handbuch des öffentlichen Rechte. Einleitungsband II. S. 109. 
”%*) Die Lehre der Reohtssouveränität. Groningen 1806. S. 207 ff.
	        
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