Hansv. Frisch, Die Aufgaben des Staates in geschichtlicher Entwickelung. 61
Staat soll für das Wohl seiner Mitglieder sorgen, so gross sind die Schwierigkeiten in dem Augen-
blick, wo man die Theorie in Praxis umzusetzen versucht. Der Begriff des Wohles ist ein rein sub-
jektiver; jedes Individuum hat andere Bedürfnisse, die befriedigt werden müssen, damit es sich
wohl fühlen kann; aber diese Tätigkeit kann nicht der Staat vornehmen. Wohin es führt, wenn
er sich doch berufen fühlt, solche Aufgaben zu erfüllen, zeigt in deutlicher Weise die Willkürherr-
schaft des Polizeistaates. Er liess nicht das Individuum entscheiden, was ihm not tue, sondern
richtete ein grandioses System der Bevormundung des Volkes ein und mengte sich in alle Privat-
angelegenheiten des Einzelnen, wodurch die von der Staatsgewalt freie Sphäre des Individuums
auf ein Minimum reduziert wurde. Unter Berufung auf das allgemeine Wohl ist nach dieser Theorie
jede Massregel gerechtfertigt; sie kennt keine Beschränkung der Staatsgewalt und kann daher
nicht als brauchbare Grundlage für eine praktische Politik betrachtet werden. Die oben ausChri-
stian Wolff gebrachten Beispiele führen die Theorie selbst ad absurdum.
Ähnliche Schwierigkeiten zeigen sich bei einem Versuch, die ethische Theorie in Praxis um-
zusetzen. Was als sittlich anzusehen ist, kann objektiv nicht festgestellt werden. Insbesondere
wenn es sich um Sittlichkeit in religiösem Sinne handelt, wird eine Feststellung des Be-
griffes zur Unmöglichkeit, da die verschiedenen Religionen und selbst innerhalb der
christlichen die verschiedenen Konfessionen zu berücksichtigen wären.®) Überdies ver-
fällt die ethische Theorie in denselben Fehler wie die eudaimonistische, indem sie die
möglichen Grenzen staatlicher Wirksamkeit übersieht. Kein Staat kann Sittlichkeit oder
religiöses Empfinden erzeugen oder erzwingen, ebensowenig wie er es unterdrücken kann, denn dies
sind menschlich-innerliche Vorgänge, auf die der Staat mit seinen äusseren Machtmitteln keinen
Einfluss hat. Welche Gefahren diese Verkennung der Grenzen für Staat und Gesellschaft mit sich
bringen kann, zeigt in erschreckender Deutlichkeit die Geschichte Europas. Die Greuel des dreissig-
jährigen Krieges, das Schreckensregiment der päpstlichen Inquisition, die grausame Vertreibung
vieler Tausender von Familien aus ihrer Heimat und manches andere wäre unsern Ländern erspart
geblieben, hätte den staatlichen Machthabern nicht die Einsicht in die Grenzen staatlicher Wirk-
samkeit gemangelt. Wo die Staatsgewalt sich berufen gefühlt hat, die von der Kirche geforderten
Massregeln durchzusetzen, da war nicht nur völlige Vernichtung der geistigen Freiheit die Folge,
sondern die Staaten selbst wurden unfrei, wurden Vasallen der Kirche. Der von Stahl im 19.
Jahrhundert unternommene Versuch, das mittelalterliche Verhältnis von Staat und Kirche wieder
herzustellen, ging darauf hinaus, den Staat von neuem in Unterordnung unter die Kirche zu bringen
und eine Vermengung kirchlicher und staatlicher Aufgaben herbeizuführen.
Liegt der Hauptfehler der eudaimonostischen und der ethischen Theorie in zu grosser Aus-
dehnung der staatlichen Zwecke, so verfällt die Rechtstheorie in den entgegengesetzten, indem sie,
in der Tendenz, die Staatszwecke möglichst zu begrenzen, diese viel zu sehr einengt. Wird in dem
ersten Falle das Individuum dem Staate geopfert, so opfert die Rechtstheorie den Staat dem Indi-
viduum.%) Es wurde bereits erwähnt, dass der Rechtszweck mit allen Theorien häufig verbunden
wurde; es hat auch nie Staaten gegeben, welche die Aufgabe der Rechtssetzung und Rechtsver-
wirklichung nicht gekannt hätten. Aber den Staat nur als eine Rechts- und Schutzanstalt zu
betrachten ist viel zu dürftig®) und ein Blick auf die Staatengeschichte zeigt, dass solche Staaten
nie existiert haben; sie könnten auch gar nicht bestehen, denn jeder Staat ist gezwungen, zur eigenen
Sicherheit und zur Selbsterhaltung Tätigkeiten zu üben, die schon nicht mehr unter den Rechts-
zweck subsumiert werden können. Es heisst das Wesen des Staates vollständig verkennen, wenn
man ihm nur den Rechtszweck zuspricht, ihn zu einer reinen, nakten Schutzanstalt, zur Schlö-
zer’schen Brandkasse degradiert.
Hingegen ist nicht zu leugnen, dass die Rechtstheorie in der Formulierung, die ihr Ende des
18. Jahrhunderts gegeben wurde, bei der Überwindung des Polizeistaates eine grosse Rolle gespielt
hat. Sie hat über das Ziel hinausgeschossen, weil sie eben eine Kampftheorie war, hat aber ihre
®) Vergl. die Widerlegunz der Theorie bei Hinsohius, Allgemeine Darstellung der Verhältnisse von
Stest und Kirche in Marquardsens Handbuch L 1, S, 240 ff.
“) Jellinek, Allgemeine Staatslehre S. 241.
s) Richtige Bemerkungen gegen den extremen Rechtsstaat schon bei Murhard, a. a. OÖ, S. 142.