62 Hans v. Frisch, Die Aufgaben des Staates in geschichtlicher Entwickelung.
grosse praktische Bedeutung für die Entstehung der modernen Staaten. Heute wird sie als über-
wunden angesehen; man hat vom Staat eine bessere Meinung als sie in der Rechtstheorie zum Aus-
druck kommt und niemand bestreitet mehr, dass ihm eine Fülle von Aufgaben zukommt, die weit
höher stehen als blosser Rechtsschutz. Dies ist im folgenden noch näher zu untersuchen.
$ 4. Die Zwecktheorie in der modernen Staatslehre.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde von der staatsrechtlichen Theorie der
Ausbau des modernen Staates vollzogen. Die von Grund aus geänderte Auffassung des Staates
ergriff ihn in allen Beziehungen; die rechtliche Stellung der Organe wie die der Untertanen wurde
eine wesentlich andere als früher und ebenso erscheinen die staatlichen Funktionen in neuem Lichte.
Was die französische Revolution und die politischen Umwälzungen der folgenden Jahrzehnte in
Europa erreicht hatten, wurde erst vollständig, als die Theorie die neuen Probleme geklärt hatte.
Das tiefere Eindringen in das \esen des Staates brachte mit der Erkenntnis der staatlichen
Grenzen auch eine nüchternere Beurteilung der Staatszwecke mit sich. Man kam endlich davon
ab, de lege ferenda dem Staate Aufgaben zuzuweisen und utopistische Ideale zu konstruieren,
sondern wandte sich dem bestelienden Staate zu.
Damit ist nicht gesagt, dass über die Staatszwecke eine Einigung erzielt worden sei; dies
ist durchaus nicht der Fall, ist nicht einmal möglich. Denn die Frage nach den Aufgaben des Staates
ist nicht eine Rechtsfrage, sondern ist eine Frage der Politik; bei Beantwortung derselben müssen
die politischen Anschauungen des Einzelnen notwendigerweise zum Ausdruck kommen. „Liberal
und konservativ, ultramontan und sozialistisch bedeuten grundsätzliche Differenzen über die Auf-
gaben des Staates.) In diesen Fragen muss daher, schon nach dem Wesen des Problems, eine
Einigung ausgeschlossen sein. Deshalb ist es ein Verkennen der ganzen Frage, wenn Murhard
sagt:®) „Die Staatsgelehrten scheinen sich noch immer nicht in ihren Ansichten vom Staatszweck
ganz einigen zu können. Der Streit über diesen Gegenstand ist wenigstens noch keineswegs als
völlig beendigt anzusehen.‘ Das kann, solange es verschiedene politische Parteien gibt, auch nicht
der Fall sein, jede Partei erklärt die ihr nicht ins Programm passenden Tätigkeiten des Staates
als seinem Zweck zuwider.
Nichtsdestoweniger kann man gewisse Aufgaben von den parteipolitischen Ansichten los-
lösen oder sie über die Parteien stellen. Freilich sind sie nur im allgemeinen anzugeben, und in der
Frage der Mittel zu ihrer Erreichung werden sich die politischen Gegensätze leicht von neuem zeigen.
Wenn z. B. als unbestrittene Aufgabe des Staates seine Selbsterhaltung anzunehmen ist, so werden
in der Frage, wie sie gelöst werden soll, ob durch eine starke Armee oder durch Abrüstung oder
sonstwie, die verschiedenen Parteien einander widersprechen. Wenn es die moderne Staatslehre
dennoch unternommen hat, objektiv an das Problem heranzutreten, so kann sie dies auf Grund
der erwähnten allgemeinen Klärung und Festigung der Ansichten über den Staat. Dass aber auch
Wi streng wissenschaftlicher Darstellung dieser Fragen die politischen Ansichten des Autors nicht
ge nz zu unterdrücken sind, ergibt sich notwendigereise aus dem politischen Charakter der Materie;
in Fragen der Politik muss die subjektive Ansicht zum Vorschein kommen.
ie grosse Verwirrung in der ganzen Lehre hat, wie schon erwähnt, erst Jellinek gelöst,
indem er die Untersuchung in die einzig richtige Bahn geleitet hat.
Zunächst stellt er, als Vorbedingung gedeihlicher Untersuchung, die Grenzen staatlicher
Tätigkeit fest. Was durch Jahrhunderte nichterkannt warund infolgedessen zu den schwersten staat-
lichen Missgriffen geführt hat, erscheint uns heute fast selbstverständlich, nämlich dass der Staat
nichts erzeugen kann, was ausschliesslich der menschlichen Innerlichkeit angehört, also Sittlich-
keit, Kunst, religiöse Gesinnung, etc. Aber der Staat kann auch das physische Leben nicht un-
mittelbar beherrschen, er kann keine Menschen erzeugen und so nicht direkt eine Bevölkerungs-
vermehrung herbeiführen. Dies alles ist und bleibt individuelle Tätigkeit und der Staat muss sich
»), Je linek, a, a. O. 5. 230,
‘")A.».0,S. 58.