68 S. Brie, Entstehung und Untergang der Staaten.
(dem Geschlecht), mag diese nun mutter- oder vaterrechtlicher Art gewesen sein, der Keim der
ältesten Staaten zu erblicken; hinzukommen aber musste eine gewisse Sesshaftigkeit, wie sie aller-
dings auch schon den mit ihrem Vieh innerhalb bestimmter Grenzen umherziehenden Nomaden
eignet, und eine solche scheint erst eingetreten zu sein mit oder nach der Vereinigung verschiedener
Sippen zu einem grösseren Stammes- Verbande. Diese Vereinigung wird bald eine freiwillige,
bald eine gewaltsame gewesen sein. Ganz zurückzuweisen aber ist die Annahme, dass nur durch
gewaltsame Unterwerfung einer (bereits ansässigen) Bevölkerung von seiten stammfremder Er-
oberer Staaten ursprünglich entstanden seien und hätten entstehen können.
3. Auch in historischen Zeiten und für schon staatsangehörige Menschen
ist eine ursprüngliche Entstehung neuer Staaten nicht ausgeschlossen.
a) Sehr bestritten ist freilich, ob Staaten überhaupt durch freiwilligen Zusammentritt von
Individuen entstehen können und ob geschichtliche Beispiele dieser Entstehungsart sich
nachweisen lassen. Die Möglichkeit solcher Entstehung wird keinenfalls in Abrede zu stellen sein,
wenn man von der Frage der rechtlichen \Vertung eines solchen Aktes absieht; wir werden zudem
dartun (unten IV 2c und 3), dass dieser auch rechtlich imstande ist, einen Staat zu gründen; hinzu-
kommen muss freilich die Gewinnung eines Gebietes. Der meist erörterte, allerdings in seiner Be-
deutung für die Streitfrage vielfach angezweifelte geschichtliche Fall einer solchen Staatsgründung
ist der berübmte Vertrag, den puritanische Auswanderer aus England 1620 an Bord der Mayflower
schlossen. Weder die fortdauernde englische Staatsangehörigkeit der Vertragschliessenden noch
die Zugehörigkeit des von ihnen in Besitz genommenen Gebietes zum englischen Staate kann als
ein Hindernis für die Annahme, dass das von ihnen gegründete Gemeinwesen ein — der englischen
Staatsgewalt untergeordneter — Staat gewesen sei, gelten; dagegen erscheint es als sehr zweifel-
haft, ob der Vorgang als ursprüngliche Entstehung eines Staats anzusehen ist. Bei der Gründung
des Staates Kalifornien im Jahre 1849, die gleichfalls als typisches Beispiel der hier in Frage stelıen-
den Entstehung eines Staates geltend gemacht worden ist, kommt gegen diese Auffassung noch
besonders in Betracht, dass die Berufung einer von den Einwohnern gewählten konstituierenden
Versammlung und die Vorlegung der von dieser beschlossenen Verfassung an die Bevölkerung im
Auftrage der Vereinigten Staaten, denen das betreffende Gebiet schon gehörte, stattfand.
b) Häufig hat sich ein Staat in geschichtlicher Zeit entwickelt aus einem engern orga-
nisierten, genossenschaftlichen oder herrschaftlichen Verbande, indem, sei es bewusst
oder unbewusst, die Zwecke der Gemeinschaft und der Kreis der ihr unterworfenen Angelegen-
heiten sich erweiterten bezw. neben den Interessen des Herrschenden die der Beherrschten Berück-
sichtigung fanden, und indem auchdie Herrschaft überein Territorium, soweitsienoch fehlte, erworben
wurde. Die fortdauernde Unterordnung unter eine höhere Staatsgewalt schliesst eine solche Um-
wandlung eines nicht staatlichen Verbandes in einen Staat richtiger Ansicht nach nicht aus. So
haben sich im Mittelalter vielfach städtische Gemeinden zu Stadtstaaten aus-
gebildet; als der entscheidende Punkt in dieser Entwickelung muss die Vereinigung der gesamten
öffentlichen Gewalt innerhalb der Stadt in den Händen von Organen des städtischen Gemeinwesens
angeschen werden. Nicht selten haben auch Religionsgemeinschaften zugleich den
Charakter von Staaten angenommen oder gleichsam einen Staat aus sich hervorgebracht.
Beispiele der ersteren Art bieten der Mormonenstaat in Utah; das Chalifenreich, allerdings mit Hilfe
von Eroberung; annähernd auch die katholische Kirche in der Höhezeit ihrer mittelalterlichen
Machtstellung. Als Beispiele der zweiten Art können der Kirchenstaat, der Staat des deutschen
Ordens in Preussen und der Jesuitenstaat in Paraguay angeführt werden, wenn auch im ersten Fall
Verleihung staatlicher Hoheitsrechte durch den Träger der weltlichen Gewalt, im zweiten Fall
kriegerische, im dritten Fall friedliche Unterwerfung mitgewirkt hat. In einer den letzterwähnten
Fällen ähnlichen Weise haben auch Kolonial- und Handelsgesellschaften zur
Entstehung von Staaten auf den von ihnen besiedelten oder unterworfenen Gebieten geführt; als
Beispiele mögen der Negerstaat Liberia und der Kongostaat genannt werden. Aus privaten
Grundherrschaften, freilich unter Mitwirkung der Übertragung öffentlichrechtlicher