Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

S. Brie, Entstehung und Untergang der Staaten. 69 
  
Befugnisse, sind in Deutschland die landesherrlichen Territorien erwachsen, die dann allmählich 
seit Ausgang des Mittelalters den Charakter wirklicher Staaten annahmen. 
Bei solchen aus engeren Verbänden hervorgegangenen Staaten ist es regelmässig schwer 
festzustellen, wann die Staatsbildung als vollendet anzusehen ist, und auch nach vollendeter Ent- 
stehung pflegen die so entstandenen Staaten noch längere Zeit in ihren Einrichtungen und in ihrem 
Leben tiefgreifende Nachwirkungen ihres Ursprungs zu bewahren. 
4. Sehr mannigfach sind die Arten der tatsächlichen Entstehung eines neuen Staates aus 
einem schon vorhandenen Staate oder mehreren schon vorhandenen Staaten, 
und für die meisten dieser Entstehungsarten liegen zahlreiche geschichtliche Beispiele vor. Hierher 
gehörige Entstehungsarten sind: Gliederung bezw. Kolonisation; Teilung; Lossagung; Eroberung; 
Konföderation; Union im engeren Sinne. 
a) Von der Entstehung eines Staates durch Gliederung sprechen wir, wenn von einer 
bestehenden Staatsgewalt aus einem Teil des Volkes und Landes ein neuer Staat geschaffen wird, 
der dann regelmässig dem alten Staate untergeordnet sein soll. So hat dieTürkei 1878, allerdings in- 
folge kriegerischen Zwanges, den Vasallenstaat Bulgarien in das Leben gerufen; so ist Elsass- 
Lothringen auf dem Wege, von der deutschen Reichsgewalt aus einer Provinz des Reiches zu einem 
Einzelstaate desselben gemacht zu werden; so hat der brasilianische Staat 1889 nach Abschaffung 
der Monarchie seine bisherigen Provinzen in Gliedstaaten umgewandelt. Fortdauernd geht in Nord- 
amerika die Erhebung von Territorien zu Staaten durch einen Willensakt der Unionsgewalt vor 
sich; allerdings wird auch die Bevölkerung des Territoriums bei dieser Staatsgründung beteiligt. 
b) Nahe verwandt mit der Entstehung von neuen Staaten durch Gliederung ist diejenige 
durch Kolonisation. Die Kolonisation als Ansiedelung eines Volksteils in einem bisher von 
diesem Volke nicht bewohnten Lande führt allerdings, auch wenn sie von dem betreffenden Staate 
geleitet bezw. geschützt wird, in den meisten Fällen wenigstens nicht unmittelbar zur Errichtung 
eines neuen Staates. Die von den alten hellenischen Staaten entsandten Kolonien aber erhielten 
von vorneherein den Charakter besonderer, sogar vom Mutterstaat rechtlich völlig unabhängiger 
Staaten. 
c) Durch Teilung entstehen Staaten, indem an Stelle eines bisherigen Stastsverbandes, 
regelmässig kraft des Willens desselben, eine Mehrzahl von neuen Staaten tritt. So hat sich die 
Teilung des römischen Reiches in ein west- und ein oströmisches Reich, die des fränkischen Reichs, 
allerdings unter Mitwirkung kriegerischer Vorgänge, nach dem Tode Ludwigs des Frommen in drei 
verschiedene Staaten vollzogen. Besonders häufig kommen Erbteilungen deutscher Territorien, 
die freilich noch nicht zu Staaten in vollem Sinne erwachsen waren, im späteren Mittelalter und im 
Beginn der Neuzeit vor. 
d) DieLossagung.d.h. die einseitige Abtrennung eines räumlich zusammenwohnenden 
Volksteils mit dem betreffenden Gebiete von dem Staate, zu dem er bisher gehörte, führt möglicher- 
weise nur zur Vergrösserung eines anderen schon bestehenden Staates. Meist aber geschieht sie zu 
dem Zwecke und mit dem Erfolge der Bildung eines neuen besonderen Staates. Auf diesem \Vege 
sind, um nur Beispiele aus der neueren Zeit anzuführen, die Königreiche Belgien und Griechen- 
land sowie sehr zahlreiche neue Staaten in Nord-, Mittel- und Südamerika entstanden. 
6) Die Eroberung, d. h. die dauernde Unterwerfung eines Volks oder eines grösseren 
Volksteils mit dem von ihm bewohnten Gebiete durch Anwendung kriegerischer Gewalt von seiten 
eines anderen Volkes, hat häufig nur eine Vergrösserung des siegreichen Staates zur Folge. Nicht 
selten aber errichtet dieser in dem neu erworbenen Lande einen neuen Staat, sei es nur oder wesent- 
lich nur aus der unterworfenen bisherigen Bevölkerung, sei es mit Einschluss des siegreichen Volkes 
oder zahlreicher Angehörigen desselben, die auf dem gleichen Gebiete sich dauernd niederlassen. 
Geschichtliche Beispiele der letzteren Art geben die von zahlreichen west- und ostgermanischen 
Völkern auf römischem Boden errichteten sowie die später von den Normannen in der Normandie, 
in England, in Unteritalien und Sizilien gegründeten Stsaten. Als geschichtliche Beispiele der
	        
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