Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

$. Brie, Entstehung und Uutergang der Staaten. 71 
lust sich nicht auf die historischpolitisch als Kernlande des Staats zu betrachtenden Gebietsteile 
erstreckte; ebensowenig haben die Einverleibungen von 1866 die Individualität des preussischen 
Staates aufgehoben. 
2. Den tatsächlichen Untergang eines Staates bewirken daher nur Vorgänge, welcheseine 
bisherige Zusammensetzung völligaufhebenoder iin überwiegendem 
Masse ändern. Hierher gehören insbesondere folgende Fälle: 
a) Durch Vernichtung oder völligeZerstreuungdesVolksa, wie sie im Alter- 
tum z. B. bei der Zerstörung von Tyrus, Sagunt, Karthago erfolgte, geht der betreffende Staat unter. 
Die gleiche Wirkung wird dem — nicht leicht praktisch werdenden — Untergang des Staatsgebietes 
zukommen. Aber auch durch ein völliges Aufgeben des bisherigen Gebietes geht der bis- 
herige Staat unter. Dasselbe Volk auf einem ganz neuen Gebiete wird einen neuen Staat bilden. 
b) Durch dieTeilung eines Staates in mehrere Staaten (oben II 4 c) erlischt der erstere,auch 
wenn ein gewisser Zusammenhang zwischen den mehreren neuen Staaten fortbesteht. Gleiche 
Wirkung hat die Verteilung von Volk und Gebiet eines Staates unter mehrere schon be- 
stehende Staaten ; insofern dieser Vorgang, wie bei dem Untergang des polnischen Staates, ein 
gewaltsamer ist, findet ein Zusammenwirken von Eroberung und Teilung statt. Ein aus 
mehreren Staaten zusammengesetzter Staat geht auch unter, wenn die letzteren sich sämtlich von der 
Unterordnung unter die Zentralgewalt frei machen bezw. diese aufhört zu fungieren; in solcher Weise 
hat insbesondere die Auflösung des alten deutschen Reichs 1806 stattgefunden. 
c) Infolge von Eroberung (oben Il 4e) geht ein Staat unter, wenn das ganze Volk mit 
seinem Gebiete in den siegreichen Staat einverleibt oder für die Errichtung eines neuen Staats ver- 
wendet wird (so z. B. das Kurfürstentum Hessen 1866 durch Einverleibung in Preussen ; dasselbe — 
wenn such nicht endgültig — 1807 durch Einfügung in das neu gegründete Königreich Westphalen). 
d) Durch freiwillige Vereinigung mit einem anderen Staat (oben II 4 g) verliert 
ein Staat seine Existenz, wenn dadurch nur der erstere vergrössert oder ein neuer Staat ge- 
gründet wird. 
Ein Staat würde auch erlöschen durch Anarchi e, d. h. wenn die Angehörigen aufhören 
würden, in dem bisherigen Staatsverband zu leben, ohne dass für sie ein neuer an die Stelle träte; 
jedoch wird ein solcher Vorgang höchstens ganz vorübergehend eintreten können. 
IV, Rechtliche Entstehung von Staaten. 
1. Die Frage, wie Staaten rechtlich zur Entstehung gelangen, ist vielfach dadurch verwirrt 
worden, dass man den Rechtsgrund der konkreten Staaten nicht oder nicht genügend von dem all- 
allgemeinen psychologischen Erklärungsgrund und von dem allgemeinen ethischen 
Rechtfertigungsgrund des Zusammenlebens der Menschen in Staaten unterschied. Psychologisch 
liegt der Existenz aller Staaten ein den Menschen innewohnender Trieb, ein „Staatstrieb‘ zugrunde. 
Ethisch rechtfertigt sich die geschichtliche Tatsache wie die Forderung staatlichen Zusammen- 
lebens der Menschen durch die Vernunftsnotwendigkeit des Staats. Diese philosophischen Erkennt- 
nisse sind aber für diejuristisch e Betrachtung der Existenz der einzelnen Staaten bedeutungs- 
los. Andererseits kann jedoch auch die Ansicht, dass das Bestehen oder wenigstens die Entstehung 
der einzelnen Staaten überhaupt kein Gegenstand rechtlicher Qualifikation sei, nicht als zutreffend 
anerkannt werden. Recht und Staat sind überhaupt zwei auf das engste mit einander zusammen- 
hängende hohe Güter der Menschheit, der Bereich des Rechts aber würde eine überaus tiefgreifende 
Einschränkung, der Begriff des Staats eine wesentliche Minderung erleiden, wenn auf die Vorgänge 
der Bildung von Staaten oder sogar überhaupt auf das Bestehen der einzelnen Staaten die Herrschaft 
des Rechts sich nicht erstrecken sollte. Für eine solche Annahme ist selbst die Theorie, dass alles 
Recht staatlichen Ursprungs sei, keine ausreichende Grundlage; denn immerhin kann ja ein neuer 
Staat durch den Willen eines schon bestehenden Staats bezw. mehrerer schon bestehender Staaten 
entstehen.
	        
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