S. Brie, Entstehung und Untergang der Staaten. 73
a) Vertrag ist Rechtsgrund eines Staates nicht nur in den historisch höchstens vereinzelt
nachweisbaren Fällen der Stastsgründung durch freiwillige Übereinkunft von Individuen (oben II
3 a), sondern namentlich auch in den Fällen der Schaffung eines Bundesstaates bezw. eines einfachen
Staates durch Konföderation oder Union mehrerer Staaten (oben II 4f und g). Hinzukommen
muss aber in den letzterwähnten Fällen ein Gesetz jedes einzelnen beteiligten Staates, durch
welches er seine Angehörigen zum Gehorsam gegenüber dem neuen Staatswesen verpflichtet und
überhaupt der Rechtsordnung des letzteren für sie verbindliche Kraft erteilt.
b) Auf Gesetz wird insbesondere dann die rechtliche Existenz eines neuen Staates be-
ruhen, wenn die Schaffung desselben durch den Willen eines bestehenden Staates auf dem Wege
der Gliederung oder der Kolonisation oder der Teilung (vgl. oben II 4 a, b und c) erfolgt. Dagegen
kann kein Staat sich selbst durch Gesetz die ihm sonst mangelnde rechtliche Existenz geben. Frei-
lich wird nicht selten ein neu sich bildender Staat die Gesetzesform fürseine Konstituierung
— die Erklärung seines rechtlichen Daseins und die grundlegenden Bestimmungen seiner recht-
lichen Ordnung — anwenden, aber dadurch kann eine rechtliche Verpflichtung der ihm bisher nur
tatsächlich unterworfenen Menschen nicht entstehen, sondern der ihm und folglich seinen Vor-
schriften anhaftende Mangel wird regelmässig erst im Laufe der Zeit durch Einwirkung des Ge-
wohnheitsrechts geheilt werden.
ec) Auf dem Wege ds Gewohnheitsrechts wird insbesondere die rechtliche Bildung
eines Staates aus einem engern genossenschaftlichen oder herrschaftlichen Verbande in innigem
Zusammenhange mit einer derartigen tatsächlichen Entwicklung (oben II 3b) erfolgen. Aber auch in
den zahlreichen Fällen, wo ein Staat zunächst rein tatsächlich und insbesondere im \Viderspruch
mit dem bisherigen Recht durch eine Lossagung oder Eroberung (oben II 4 d und e) entstanden ist,
wird, soweit nicht etwa ein Friedensvertrag oder ein sonstiger nachträglicher Akt des verletzten
Staates als rechtliche Grundlage des neuen Staats anzusehen ıst, durch die Kraft des Gewohnheits-
rechts der neue Zustand zu einem rechtlichen werden, indem die rechtliche Überzeugung und Übung
des Volks sich dem tatsächlichen Zustande, falls dieser fortdauert und sich befestigt, allmählich
anpasst.
V. Rechtlicher Untergang von Staaten.
1. Wie die rechtliche Existenz eines Staats immer auf einem Rechtssatz beruht, so wird auch
der Untergang eines Staats rechtlich im allgemeinen nur durch einen Rechtssatz erfolgen
können. Dem staatsvernichtenden Rechtssatz steht aber gleich die dauernde faktische
UnmöglichkeitderWiederherstellungeines tatsächlich untergegangenen Staates.
Wenn ein Staat tatsächlich aufgehört hat zu bestehen und es, etwa infolge der Vernichtung des
Volkes oder der Verschmelzung desselben mit einem andern Volke, sicher ist, dass er in der bis-
herigen Zusammensetzung oder mindestens einer wesentlich gleichen nicht wieder wird bestehen
können, so ist auch rechtlich sein Dasein erloschen. Eine nur vorübergehende Unmöglichkeit der
faktischen Wiederherstellung eines Staates, wie sie 2. B. durch Übermacht eines fremden Volkes
bewirkt wird, hebt dagegen sein rechtliches Dasein nicht auf.
2. Ein Rechtssatz, wodurch das Aufhören eines konkreten Staates bestimmt
wird, kann sich, ebenso wie ein staatsschaffender Rechtssatz, gründen auf Vertrag, Gesetz
oder Gewohnheitsrecht. Jedoch wird durch Vertrag auch aller einzelnen Staatsange-
hörigen die über ihnen stehende Gesamtpersönlichkeit des Staates nicht aufgehoben werden können,
und auch ein Staatsvertrag resp. Staatsgesetz, durch den der betreffende Staat selbst: sein Sonder-
dasein aufgibt, wird infolge der Gewöhnung des Volks und vermöge des Selbsterhaltungstriebs
der staatlichen Organe nur selten, insbesondere im Fall einer freiwilligen Einverleibung in einen
grösseren Staat oder einer freiwilligen Vereinigung mehrerer Staaten zu einem neuen umfassenderen
Staatswesen (vel. oben II 4 g und III 2.d), zustande kommen; ein den Staat aufhebendes Gewohn-
heitsrecht aber kann sich während seines tatsächlichen Bestehens nicht bilden. So wird noch häu-
figer als die Entstehung der Untergang eines Staates zunächst rein tatsächlicher Natur sein und erst
nachträglich aufdem Wege des Gewohnheitsrechts rechtliche Geltung erlanzen.