Adolf Günther, Streik, Aussperrung und Boykott. 91
Von den Mitteln, mit denen dem volkswirtschaftlich schädlichen Einflusse dieser Arbeits-
kämpfe begegnet werden kann, wırd das wichtigste anderorts dargestellt: Dies wird stets der Aus-
bau der Tarıfgemeinschaften bleiben; inwieweit hier eine gesetzliche Rege-
lung des Tarıfivertrages wünschenswert und möglıch ıst, kann zu schwer entschieden
werden, zunächst hat sıch die freie, ungehemmte Inıtıatıve der beiden Parteien durchaus bewährt.
Man kann zu ıhr das Vertrauen haben, dass sıe, Je grösser und machtvoller ıhre selbstgeschaffene
Organisation wird, die Arbeitskräfte auf dasjenige Mass zurückführt, das mir dem Wohle der ge-
samten Volkswirtschaft vereinbar ist. Unter keinen Umständen geben die Lohnbewegungen der
Gegenwart Veranlassung zu grundlegenden Änderungen des Koalitionsrechts, die die Arbeitgeber
ebenso schwer treffen würden wie die Arbeitnehmer; beide sind nicht an der Aufhebung, son-
dern in hervorragender Weise am Ausbau der Koalitionsordnun & (Beseitigung des
$ 152 Abs. 2 und $ 153 RGO.) interessiert.
Vor allem erscheint es notwendig, das Gewerbegerichtsgesetz ın seinen die
Regelung und Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten betreffenden Bestimmungen zu erweitern.
Sie haben bisher bei Streiks von örtlichem Charakter meist ausgereicht, versagten indessen bei den
grossen nationalen Kämpfen und oft auch bei Aussperrungen. Es wırd nötig sein, dıe Rechtsbe-
fugnisse des Richters in dem Sinne wenigstens, dass nıcht nur en Erscheinungs-, sondern
aucheinVerhandlungszwa.n g festgelegt wird, zu steigern. Inwieweit dıe lokalen Instanzen
einen Weiteraufbau, der in einem Reichseınıgungsamt gipfeln würde (nach dem Vor-
schlag des Freiherrn v. Berlepsch), erfahren sollten, ıst unentschieden, ebenso wıe dıe Stellung-
nahme zu künftig zu schaffenden Arbeitskammern. Die Erfahrungen, dıe hier andere
Länder gemacht haben, enthalten vıel Ermutigendes, während eine Nachahmung deraustralı-
schen Zustände, die den freien Arbeitsvertrag im Grunde schon verlassen haben, zunächst nıcht
möglich erscheint. Einen sehr gangbaren Mittelweg stellt die, neuerdings auch in Frankreich,
England und den Vereinigten Staaten sehr erörterte kanadısche Gesetzgebung dar. Ihr Haupt-
zweck ist, jeden Streitfall eingehender Prüfung durch ein Einigungs- und Untersuchungsamt (board
of arbitration and conciliation) zu unterwerfen, einen offenen Konflikt damit jedenfalls hinaus-
zuschieben und der Allgemeinheit Einblick in die besonderen Verhältnisse des Falls zu ermöglichen.
Jedenfalls tragen die Arbeitskämpfe der Gegenwart allein schon durch ıhre Ausdehnung,
durch die Massen, die hier in Bewegung gesetzt werden, ihr Korrektivinsich. Das „Streik-
fieber“, das für die Zeit unentwickelter Organisation bezeichnend war, weicht klarer Einsicht ın
dıe reale wirtschaftliche Sachlage. Nicht die grossen gelegentlichen „‚Demonstratiıons-
streiks‘ (Naumann) sind es, in denen die Stosskraft des Kampfes liegt, sondern die systematisch
betriebenen kleineren Teilausstände, die den Gegner an empfindlicher Stelle treffen und
heute mehr und mehr mit der Generalauss perrung beantwortet werden. Von der Ueber-
legung und dem Verantwortlichkeitsgefühl der beiden Gruppen, nicht von anarchischer Streik-
stimmung sind heute die meisten Bewegungen beherrscht. Einen gewissen Rückfall bedeutete
freilich die jüngsten Bergarbeiterstreiks in Deutschland und England, dessen Inszenierung mit
Recht als den gewerkschaftlichen Regeln zuwider bezeichnet wurde. Inwieweit der Syndikalısmus,
die auf den politischen Generalstreik gerichtete Arbeiterpolitik, auf die Arbeitskämpfe der Zukunit
einwirken wird, steht noch dahin. Bedenkliche Ansätze zeigen sich ın England.
Gerade diese Überlegung führt dann zur Prophylaxe, die man insbesondere auf Arbeıt-
geberseite in einer Streikversicherung der grossen Verbände sıeht; Ansätze zu analogen
Einrichtungen sind auch schon auf Arbeitnehmerseite vorhanden; sie alle müssen dazu führen, ın
dem Lohnkampf eine notwendige und berechtigte, aber streng geregelte und vor allem durch reın
wirtschaftliche Gesichtspunkte geleitete Begleiterscheinung des freien Arbeitsvertrages zu erblicken.