Full text: Handbuch der Politik.Dritter Band. (3)

912 Hans Plehn, England und Deutschland. 
  
U  _ _ 
Hindernis, das einer englisch-deutschen Annäherung ım Wege stand, beseitigt. Schon in seiner 
grossen Rede vom 28. November 1911 sprach Sir Edward Grey die Erwartung aus, ‚dass in zwei bis 
dreı Jahren das Gerede von einem grossen europäischen Kriege aufgehört haben und dass sich 
zwischen England und Deutschland “a growth of goodwiıll” gebildet haben würde‘. Das erste An- 
zeichen einer Wendung der Dinge war die ReiseLord Haldanes nach Berlin; und es war noch kein 
Jahr seit jener Rede Sir Edward Greys vergangen, als sıch England und Deutschland in engster 
politischer Zusammenarbeit gefunden hatten, um als beherrschender Mittelpunkt eines in der Bil- 
dung brgriffenen europäischen Konzertes den europäischen Frieden zu schützen. 
Mit der Liquidation der Marokkofrage waren die vertragsmässigen Verpflichtungen Englands 
gegen Frankreich erfüllt. Die englische Politik blieb entschlossen, an den Ententen mit Frankreich 
und Russland, für die sie so manche Opfer gebracht hatte, festzuhalten; allein sıe fasste diese Enten- 
ten in keinem exklusiven Sinne auf, und wünschte sie durch freundschaftliche Beziehungen mit 
Deutschland zu ergänzen. Der Gedanke, das politische Gleichgewicht zwischen den kontinentalen 
Mächtegruppen zu erhalten, ist zwar ın England lebendig geblieben, aber es beschränkte sıch mehr 
nur auf den theoretischen Fall, dass etwa Deutschland Frankreich angriffe. England ist gegen- 
wärtigeine friedliebende Macht, undes wird inseiner Friedensliebe durch die Erfahrungen des Buren- 
krieges, die noch langeunvergessen bleıben werden, bestärkt. Immerhin wäreesfalsch, seine Friedens- 
liebe zu überschätzen. Falls es seine wichtigsten Interessen ın Gefahr sähe, würde es vor der ultima 
ratio eines Krieges nicht zurückschrecken, und als eın solcher Fall gälte den Engländern auch die 
Möglichkeit einer Niederwerfung Frankreichs durch die deutschen Waffen. Es gilt weiter von der 
englischen Politik, dass sie territorial saturiert, und daher Änderungen des territorialen Status quo 
im allgemeinen abgeneigt ist. Aber es war eine Wirkung der Marokkokrisis, dass die englische 
Politik sich heute einer kolonialen Expansion Deutschlands nıcht mehr wiıdersetzt, soweit sie nıcht 
den eigenen speziellen politischen und strategischen Interessen zuwiderläuft. Diese veränderte 
Haltung Englands zcigt sich u. a. in dem grösseren Entgegenkommen, das es neuerdings in der 
Bagdadbahnfrage bewiesen hat. 
Im Verfolg der Marokkokrisis sind die Fragen der englischen Wehrpolitik ın Verbindung 
mit der auswärtigen Politik sehr lebhaft erörtert worden. Nach der Armeereform Lord Haldanes 
besitzt England ein kl:ines, aber gut organisiertes Exprditionskorps von etwa 160000 Mann, das 
jederzeit zum überseeischen Dienst bereit ıst, und eine milizartıge Territorialarmee von etwa 250 000 
Mann, die zur Landesverteidigung bestimmt ist, und die sich eingestandenermassen mit einem 
modernen kontinentalen Heere nicht messen könnte. Wenn man davon ausging, dass England 
mit seinem Expeditionskorps in einen eventuellen europäischen Krieg eingreifen sollte, so ergab 
sich ein offenbares Missverhältnis zwischen seiner Wcehrverfassung und einer kontinentalen Politik, 
zu deren Durchführung eine auf der allgemeinen Wehrpflicht beruhende Armee nötıg wäre. Während 
eine politische Richtung ın England die Bestrebungen von Lord Roberts unterstützte, die allgemeine 
Wehrpflicht in England einzuführen, lehnten die liberale Regierung und die liberale Parteı diesen 
Gedanken a limine ab. Die Liberalen waren entschlossen — und die massgebenden Kreise der 
Unionisten haben sich ebenfalls zu diesem Grundsatz bekehrt, — das vorhandene Missverhältnis 
zu beseitigen, nicht indem sie die Wıhrverfassung im kontinentalen Sinne änderten, sondern indem 
sie ein stärkeres Desinteressement der englischen Politik ın den Fragen des europäischen Kontinents 
betonten. Es war ganz in diesem Geiste, dass im Frühjahr 1912, als von bestimmten englischen 
Kreisen angeregt wurde, die Entente mit Frankreich in ein festes Bündnis zu verwandeln, die Ant- 
wort sehr entschieden im entgegengesetzten Sinne ausfiel. Nachdrücklich hat dann noch am 10. 
April 1913 der englische Premierminister im Parlament erklärt, dass England keinerlei mılitärısche 
oder maritime Verpflichtungen für den Kriegsfall übernommen habe, und am 5. August 1913 erklärte 
der Lordkanzler im Oberhaus, dass England (in Europa) keine Bündnisse habe. Unbeschadet der 
Fortdauer der Entente cordiale ist die englische Politik unmerklich wieder in die Geleise der Salıs- 
buryschen Politik eingelenkt, nur dass man nicht mehr von einer Politik der „glänzenden Isolerung‘“, 
sondern von einer Politik der ‚‚freien Hand“ spricht. Dass England damit nicht auf eine aktıve 
Politik in den grossen europäischen Fragen verzichtete, zeigte sich, als der Balkankrieg ausbrach. 
England übernahm vielmehr die führende Rolle; die Botschafterreunion, die auf die Initiative 
  
  
  
 
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.