62 Ludwig Pohle, Die Wohnungsfrage.
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seine Vorherrschaft in den englischen Städten nicht behördlichen Bestimmungen, sondern den
Wohnsitten der Bevölkerung, milderen Bauvorschriften und vor allem auch einer anderen, mehr
dezentralisierten Sıedelungsweise, dıe zur Voraussetzung wieder gute Verkehrseinrichtungen und
eine bestimmte Tageseinteilung hat. |
Über die Vorzüge und Nachteile des deutschen städtischen Wohnungswesens im Vergleich
mit dem englischen ıst vıel gestritten worden. Sowohl ın gesundheitlicher, wie in sittlicher und auch
in wirtschaftlicher und sozualpolitischer Hinsicht wurde die Mietkaserne häufig allgemein als die
minderwertige Wohnform hingestellt. In wırtschaftlicher Hinsicht wurde sie angeklagt, zu einer
Verteuerung der Wohnungen zu führen. ‚‚J& höher der Bau, je höher die Mieten‘ (Eberstadt). In
sozialpolitischer Beziehung hielt man ıhr beispielsweise folgendes Sündenregister vor:*) ‚Die Er-
schwerung der Erwerbung eines eigenen Heims, dıe Loslösung der Menschen vom heimatlichen
Boden, die dringende Gefahr der Ausbildung der Hausherren zu Haustyrannen, die Entwicklung
des Häuserbesitzes zum Spekulationsbesitz und infolgedessen einerseits eine ungesunde Ent-
wickelung ‚des Baugewerbes und andererseits dıe Tendenz zu fortgesetzter Mietsteigerung, um
zu dem entsprechend höher kapitalisierten Preise verkaufen zu können, und in enger Verbindung
damit die stete Gefahr der Kündigung und zahllose Umzüge mit ihren wirtschaftlichen Störungen
und Schädigungen.“
Zu diesen Anklagen sei hier nur soviel bemerkt: In hysienischer und sittlicher Beziehung
braucht das Wohnen ım grossen Miethaus, ınsbesondere bei entsprechenden Bestimmungen der
Bauordnung über Strassenbreite, Gebäudehöhe, Abschluss der Wohnungen, Grösse der Höfe,
Abortanlagen usw. durchaus nıchtungünstigere Wirkungen nach sich zu ziehen als das im Kleinhaus.
In wirtschaftlicher Hinsicht ıst der Hochbau ohne Zweifel die überlegene Bauweise; aus verschiedenen
exakten Berechnungen, dıe hierüber vorliegen,5) ergibt sich, dass im grossen Etagenhaus die Woh-:
nungen wesentlich billiger hergestellt werden können als ım Kleinhaus. Das muss aber unter sonst
gleichen Umständen dazu führen, dass der Übergang zum Hochbau die Wohnungsmieten ermässigt
oder doch wenigstens ıhr Steigen verlangsamt. Von den sozialpolitischen Bedenken gegen das
Massenmiethaus ıst richtig, dass das Kleinhaus den Hauserwerb erleichtert; unrichtig dagegen ist
die Behauptung, dass das Kleinhaus die Grundstücksspekulation eindämme. Die Erfahrungen
in Nordamerika lehren gerade das Gegenteil.*) Im ganzen ist zu dem Streit über Kleinhaus und Miet-
kaserne zu sagen, dass jede der beiden Wohnformen ihre eigenartigen Vorzüge und Nachteile hat
und dass daher keine von beiden als das absolute, unter allen Umständen zu erstrebende Ideal
gelten kann. Von den Vorwürfen, die speziell in Deutschland mit Vorliebe gegen die Mietkaserne
erhoben werden, fallen viele nıcht dem System der Mietkaserne an sich zur Last, sondern sie be-
ziehen sich auf Erscheinungen, die überall hervortreten, wo die grossstädtischen Menschen-
anhäufungen über ein gewisses Mass hinausgehen. Das erhellt schon daraus, dass ganz ähnliche An-
klagen, wiesie in Deutschland dem Etagenhaus widerfahren, in England gegen das Cottagesystem
erhoben werden.?) ‚Die Beschaffenheit unserer englischen Städte zeigt, dass das Vorherrschen
der Cottages und die Abwesenheit der Mietkasernen nicht genügt, um eine Stadt wohnlich zu
machen,“ schrieb der englische Wohnungspolitiker Horsfall 1906 in der ‚Zeitschrift für Wohnungs-
wesen.‘‘ Englische und holländische Wohnungspolitiker suchen daher in ihren Ländern dıe Eın-
führung des Etagenhauses nach deutschem Muster zu fördern.
In Deutschland dagegen hat die ausgesprochene Vorliebe für das Kleinhaus, die in den Kreisen
der Verwaltungsbeamten, Wohnungspolitiker usw. vielfach herrscht, die Folge gehabt, dass man an
vielen Orten durch Vorschriften in der Bauordnung auf eine grössere Verbreitung des Flachbaues
%) Adickes im Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Artikel ‚„Stadterweiterungen‘“, 3. Aufl.,
Bd. 7, 8. 783.
6) Siehe z. B. die Angaben bei Freudenberg, Wohnungsfrage und Bauordnung, Karlsruhe 1908,
S. 21/22.
°) Vgl. hierzu den Aufsatz von W. M. Schultz in den Preussischen Jahrbüchern, 131. Bd., S. 223ff.
?) Das zeigt z. B. in sehr drastischer Weise die Gegenüberstellung der Äusserungen deutscher und englischer
Wohnungspolitiker, die A. Voigt in der Zeitschrift für Sozialwissenschaft‘‘, Neue Folge, 1. Jahrg. (1910) S. 397tf.
vorgenommen hat.