Full text: Handbuch für den exekutiven Polizei- und Kriminalbeamten.Zweiter Band. 1905. (2)

Vernehmung der Zeugen. 321 
vielleicht gerade in einem wichtigen Geschäfte gestört, der andere will zu einem Ver- 
gnügen eilen. Es kommt deshalb sehr viel auf genaue und scharfe Fragenstellung 
an, die der Beamte ja vorbereiten kann und durch welche er das Gedächtnis der 
Zeugen anregt. Daß die Zeugen ihre Angaben der Polizei gegenüber später vor 
dem Staatsanwalt und vor Gericht verbessern, vervollständigen, abändern usw., wird 
bei der Natur des menschlichen Gedächtnisses nie zu vermeiden sein. Hierüber 
braucht sich kein Kriminalbeamter Gedanken zu machen, wenn er seine Pflicht 
getan hat. 
Stichworte der Zeugenaussagen werden zu notieren sein. 
Der Kriminalbeamte muß bei seinen Vernehmungen auch das im Auge haben, 
daß die Wahrnehmungsfähigkeit und das Erinnerungsvermögen der verschiedenen 
Menschen je nach Befähigung und Interesse an dem Sachgegenstand verschieden und 
vollkommen auch bei dem Befähigtsten nicht sind. Gesichtssinn, Gehörssinn, Ge- 
schmackssinn, Geruchssinn und Tastsinn sind den Menschen ganz verschieden zugeteilt. 
Bei den Denkvorgängen des Menschen läuft soviel Mechanisches, Unbewußtes, Persön= 
liches mit unter, daß der Kern einer Aussage auch hierauf zu prüfen ist. Die 
Art und Eigentümlichkeit der Wiederherstellung eines vergangenen Vorganges im Ge- 
dächtnisse ist auch verschieden; Erinnerungsfälschungen bleiben niemandem erspart. 
Das Gesetz, nach welchem ein Gedanke den andern aus dem Bewußtsein des 
Menschen zieht, — sogenannte Ideenassoziation — beruht auf der Aehnlichkeit und 
Gegensätzlichkeit der Merkmale, sowie auf ihrer räumlichen und zeitlichen Nachbar- 
schaft. Wenn ich an den Besuch des gestrigen Konzertes oder des Schloßgartens 
denke, fallen mir die Personen ein, welche ich da gesehen und gesprochen habe. 
Wenn ich auf der Straße einen großen schönen Hund sehe, fällt mir ein, daß ich 
gestern bei meinen Bekannten einen ähnlichen gesehen habe usw. Alles dies beweist, 
von welcher Zufälligkeit das menschliche Erinnerungsvermögen oft abhängen kann. 
Schwer ist von einem Zeugen auch die Frage zu beantworten, was er getan haben 
würde, wenn er gewisse Umstände, z. B. die unwahren Angaben des Beschuldigten 
bei Inanspruchnahme von Kredit, gekannt hätte. Die Beantwortung dieser Frage 
setzt, das wolle man nicht vergessen, eigentlich eine recht objektive Selbstkritik 
voraus, deren bekanntlich nur wenige fähig sind. Wenn der Beschuldigte verhaftet 
vor einem steht, läßt sich's ja in gewisser Beziehung recht leicht sagen, man würde 
ihn nie und nimmer kreditiert haben usw. Es kommt weiter nicht bloß darauf an, 
festzustellen, daß ein Zeuge etwas gehört oder gesehen haben will. Vor allem muß 
die Quelle seiner Wissenschaft erforscht werden. Da zeigt es sich dann oft, daß 
ein ungebildeter Zeuge etwas als eigene Wahrnehmung erzählt, was er gar nicht 
selbst mit angesehen oder angehört hat, sondern nur vom Hörensagen weiß, er spricht 
aber in seiner Redeweise von einer Tatsache. Man muß deshalb zunächst feststellen, 
von welchem Standpunkte aus ein Zeuge seine Wahrnehmungen machte und welches 
Interesse er zur Zeit der Wahrnehmung an letzterer hatte. Wer bei einer Schlägerei 
von ferne vorüberkam und es sehr eilig hatte, wird kaum sichere Wahrnehmungen 
gemacht haben. Gewisse Vorgänge, wie Schläge und Gegenschläge bei einer Prügelei, 
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