Full text: Handbuch für den exekutiven Polizei- und Kriminalbeamten.Zweiter Band. 1905. (2)

322 I. Der exekutive Kriminalbeamte. 
folgen sich oft so schnell und plötzlich, daß die Wahrnehmungsfähigkeit des Zuschauers 
versagt. Es kommt sehr oft in einer Untersuchung auf einen Umstand an, 
der für den Wahrnehmenden ganz bedeutungslos sein mußte. Wenn ein solcher 
Zeuge nun mit vollster Sicherheit behaupten will, dieser für ihn zur Zeit des Vor- 
kommnisses ganz gleichgiltige Umstand sei so und nicht anders gewesen, so wird zu 
prüfen sein, ob diese Aussage zuverlässig sein kann. Hierbei mag angemerkt werden, 
daß erfahrungsgemäß gerade ungebildete Zeugen oft ihre Angaben mit selbst durch 
stichhaltige Einwendungen nicht zu erschütternder Bestimmtheit machen. Sie haben 
eben keine Ahnung davon, wie das Gedächtnis den Menschen leicht irreführen kann. 
Ein solcher Zeuge verwechselt dann die spätere Vorstellung, die er sich von dem 
Vorgange gemacht hat, mit seiner ursprünglichen Wahrnehmung. Er versteht nicht, 
daß eine solche Verwechselung in seinem Innern vor sich gehen kann. Deshalb ist 
er von seiner Ansicht nicht abzubringen und wird auf eindringlichen Vorhalt viel- 
leicht sogar unangenehm. Der gebildete Zeuge kontroliert sich selbst psychologisch 
bei seinen Gedächtnisfehlern, hat mehr Zeit und Uebung, sich in Gedanken in den 
vergangenen Vorgang zurückzuversetzen, und ist mit seinen Behauptungen vorsichtiger. 
Als wenig zuverlässig, ja als trügerisch erweist sich das menschliche Wahrnehmungs- 
vermögen bekanntlich bei nachträglicher Schätzung einer bestimmten Tagesstunde und einer 
Zeitdauer, bei Schätzung von Entfernungen und bei Beschreibung von Oertlichkeiten. 
Wenn es sich darum handelt, festzustellen, zu welcher Zeit ein Vorgang oder eine 
Wahrnehmung oder eine Handlung erfolgt sind, so wird man bei dem die Stunde 
schätzenden Zeugen vorprüfen müssen, welche Anhaltspunkte er für seine Zeit- 
bestimmung hatte. Diese Frage ist namentlich auf dem Lande wichtig. Besaß der 
Zeuge eine richtig gehende Uhr? Hat er und wann an ihr die Zeit abgelesen? 
Aus welchem Anlaß? In welcher Oertlichkeit? Was hat er von diesem Augen- 
blicke bis zu dem festzustellenden anderen Zeitpunkte alles getan? Wenn der 
Zeuge nicht nach der Uhr gesehen hat, nach welchem anderen Ereignis schätzte 
er die Zeitbestimmung? z. B. nach der Heimkehr seiner Kinder aus der 
Schule oder nach einer bestimmten regelmäßig zu einer bestimmten Zeit erfolgenden 
Handlung, z. B. nach Beginn oder Schluß der Arbeit usw.? Ebenso ist zu ver- 
fahren, wenn es sich nachträglich um die Feststellung eines bestimmten Tages 
handelt. Die zu befragenden Personen werden auch hier erst darauf hin zu 
prüfen sein, von welchem Anhaltspunkte aus sie den Tag berechnen wollen. 
War das Ereignis am ersten Tage eines Monats vorgefallen, so wird die Er- 
innerung der Zeugen leicht dadurch zu erwecken sein, daß der erste Monatstag 
für die meisten Menschen in pekumärer Beziehung Bedeutung hat. Ebenso der 
wöchentliche Lohntag für Arbeiter oder der Tag der Miietzinszahlung. Viele 
Menschen haben aber für die Beslimmung eines bestimmten Tages auch andere 
Merkmale, die eben herauszusuchen sind. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze 
sind besonders Alibibeweise zu prüfen, d. h. die Behauptung und Beweisantretung, 
daß der Beschuldigte zur Zeit der Tat oder kurz vor oder kurz nachher anderswo 
gewesen sei. Schätzungen von Zeitfristen sind selten zutreffend, Schätzungen von
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.