Full text: Handbuch für den exekutiven Polizei- und Kriminalbeamten.Zweiter Band. 1905. (2)

Vernehmung der Zeugen. 323 
Entfernungen nur bei Zeugen, die von Natur oder durch ihren Beruf darin geübt 
sind. Ortsbeschreibungen sind auch oft lückenhaft: es behauptet jemand mit voller 
Bestimmtheit, an einer gewissen Stelle stehe ein Baum, und der Baum steht in 
Wirklichkeit nicht da. 
Auch darauf kommt es natürlich an, ob jemand die Wahrnehmung überhaupt 
machen konnte; ob z. B. bei einem beobachteten nächtlichen Vorgang eine Straßen- 
laterne in der Nähe stand, heller Himmel oder Mondenschein war oder Schnee lag. 
Oder es will der Zeuge von einer bestimmten Stelle aus etwas gesehen haben, und 
der Augenschein lehrt, daß er von dieser Stelle aus den Vorgang gar nicht sehen 
konnte, weil z. B. die Wand eines Hauses die Aussicht versperrte usw. 
Auch die Wiedererkennung einer bestimmten Person und vor allem des 
Beschuldigten, oder eines bestimmten Gegenstandes, z. B. eines am Tatorte gefundenen, 
zum Einbruche benutzten Taschenmessers als Eigentum des Beschuldigten seitens der 
Zeugen aus seiner Umgebung bedürfen sorgfältiger Erörterung. Handelt es sich 
darum, einen Beschuldigten nach einigen Stunden oder wenigen Tagen wieder- 
zuerkennen, so wird dies auch seitens beschränkterer Personen, z. B. seitens 
von Kindern, nicht schwer erfolgen. Gleichwohl ist auch schon in solchen Fällen 
damit zu rechnen, daß vielfach Menschen sich ähnlich sehen und daß auch der Zeuge 
vielfach keine Gelegenheit oder kein Interesse gehabt hat, sich den Beschuldigten so genau 
anzusehen, daß er sich seine Züge fest einprägen könne. Besonders ist dies aber 
zu beachten, wenn es sich um eine Wiedererkennung nach Wochen oder Monaten 
handelt. Auch ist die Befähigung, sich ein fremdes Gesicht zu merken, bei den ver- 
schiedenen Zeugen eine verschiedene, es handelt sich meist um angeborene und durch 
Uebung ausgebildete Veranlagung. Wieviel Irrtümer laufen auf diesem Gebiete 
nicht unter. Man glaubt ganz bestimmt, einen Bekannten — also einen Menschen, 
dessen Gesichtszüge man schon kannte, — da oder dort gesehen zu haben, und es 
stellt sich heraus, daß der Bekannte an jenem Orte zurzeit gar nicht gewesen ist. 
Der Kriminalbeamte muß also auch das Gesichtergedächtnis der Zeugen nachprüfen. 
Wenn es möglich ist, lasse man sich vom Zeugen, ehe dieser den Beschuldigten 
gesehen hat, diesen nach Statur, Gesichts= und Haar= und Augenfarbe, nach dem 
Bartwuchs, nach den Kleidungsstücken, nach Alter, Sprache und Dialekt und irgend 
welchen besonderen Merkmalen beschreiben. Wenn dann der Zeuge den Beschuldigten 
wiedererkennen will, aber seine frühere Beschreibung im wesentlichen nicht zutrifft, 
so muß dieser Widerspruch aufgeklärt werden. Handelt es sich um Wiedererkennung 
eines Beschuldigten seitens eines kleinen Kindes oder längere Zeit nach der Tat, 
so lasse man den Beschuldigten ganz unvermutet vor das nicht eingeweihte Kind 
treten und warte ab, ob es freiwillig erklärt, den Mann zu kennen. Oder man 
stelle den Mann mit anderen Häftlingen, die ja bei größeren Polizeibehörden immer 
zur Hand sind, zugleich vor und frage, welcher von den Männern der Täter sei. 
Wenn der Zeuge eine solche Prüfung nicht besteht und sich verwirren läßt, so wäre 
auf seine vielleicht andernfalls erfolgte Erklärung der Wiedererkennung nicht zu viel 
zu geben. 
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