Full text: Handbuch für den exekutiven Polizei- und Kriminalbeamten.Zweiter Band. 1905. (2)

Gerichtliche Psychiatrie. 405 
Daß die praktische Anwendung der Lehren der gerichtlichen Psychiatrie in 
neuerer Zeit an Bedeutung gewonnen hat, ist ja bekannt. Mit der Verbreitung 
dieser wissenschaftlichen Disziplin hat sich auch ergeben, daß nicht wenige Verbrecher, 
welche man früher ohne weiteres für zurcchnungsfähig gehalten und abgeurteilt 
hätte, sich jetzt als geisteskrank erweisen. 
Soll aber der Polizeibeamte befähigt werden, schon in seiner ersten Anzeige 
derartigen Hinweis auf eine vielleicht zweifelhafte Zurechnungsfähigkeit zu geben, so 
muß er auch einigermaßen über die verschiedenen Formen der Krankheiten des Geistes 
und des Gemütes, über ihre Entstehungsursachen, Aeußerungen und Wirkungen 
unterrichtet sein. Außerdem gibt ein Einblick in die Formen der bei Verbrechern 
vorkommenden Geistes= und Gemütskrankheiten dem Polizeibeamten vielfach auch ein 
nützliches Bild von der Psychologie, d. h. dem Seelenleben des Verbrechers überhaupt. 
In diesem Sinne wird im folgenden eine gemeinverständliche Darstellung 
unter Einschluß der bei Straftaten in betracht kommenden geschlechtlichen 
Perversitäten (Verkehrtheiten des Geschlechtslebens) gegeben. 
Voraussetzung für die Strafbarkeit einer strafbaren Handlung im Einzelfalle 
ist, daß sie dem Täter zur vorsätzlichen oder fahrlässigen Verschuldung zugerechnet 
werden kann. Eine Schuld läßt aber sich erst feststellen, wenn die Zurechnungs- 
fähigkeit des Täters zur Zeit der Tat vorhanden war. Nach dem diese Zurechnungs- 
fähigkeit behandelnden § 51 des Str.G.Bs. ist eine strafbare Handlung nicht vor- 
handen, d. h. sie kann nicht zur Schuld angerechnet werden, wenn der Täter zur 
Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustande von Bewußtlosigkeit oder 
krankhafter Störung der Geistestätigkeit befand, durch welche seine freie Willens- 
bestimmung ausgeschlossen war. Mit diesen Zuständen von Bewußtlosigkeit und 
krankhafter Störung der Geistestätigkeit beschäftigt sich die gerichtliche Psychiatrie, 
sofern sie die Erkrankungen des Gemütes und des Verstandes sowie die übrigen 
Seelenstörungen und ihnen ähnliche Erscheinungen darstellt. 
Wir beginnen mit den Erkrankungen des Gemüts. „Die Erkrankung 
des Gemüts nach der negativen Seite nennt man Melancholie, nach der positiven 
Seite Manie."“ (Cramer, Gerichtliche Psychiatrie.) 
Die Melancholie ist eine Gemütserkrankung, bei welcher der Seelenzustand 
des normalen gesunden Menschen, welcher unter dem niederdrückenden Einflusse eines 
traurigen Ereignisses seiner Lebenssphäre steht, in verstärktem Maße vorhanden ist, 
ohne daß zugleich für diese Erscheinung ein äußerer Grund vorliegt. Eine traurige 
Verstimmung verlangsamt die körperlichen und geistigen Leistungen des Kranken; 
er fühlt sich matt und wird still. Auch äußerlich, in Geberden, Haltung und Gesichts- 
zügen ist eine Veränderung wahrzunehmen. Zugleich tritt ein sich im Verlaufe der 
Krankheit steigerndes Angstgefühl ein, in welchem sich oft die sogenannten Unwürdig- 
keitsideen einfinden. Die Dauer der Krankheit ist verschieden. Sie kann Monate, 
kann auch Jahre dauern; vielfach tritt sie auch periodisch auf. Der Melancholiker 
neigt zu Selbstmord und in seinen Unwürdigkeitsideen zu falschen Selbst- 
beschuldigungen. Er klagt sich des Mordes oder vielfacher Brandstiftungen
	        
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