Full text: Handbuch für den exekutiven Polizei- und Kriminalbeamten.Zweiter Band. 1905. (2)

422 II. Der exekutive Polizeibeamte. 
Charaltereigenschaften wird im Verkehr mit dem Publikum oft viel Unheil angerichtet. 
Reizbarkeit und Empfindlichkeit verleiten zu voreiligen Handlungen, welche die öffent- 
liche Ordnung und Sicherheit oft mehr gefährden, als das Taumeln eines Trunken- 
boldes. Die Erfahrung lehrt, daß es oft zweckmäßiger ist, eine kleine Ordnungs- 
widrigkeit passieren zu lassen, als zu schnell und zu scharf anzufassen. Ist das Ge- 
bahren des Trunkenen nicht zu auffällig und hat es die Aufmerksamkeit des Publi- 
kums nicht allzu sehr erregt, so wird es oft, wenn nicht der eigene hilflose Zustand 
des Mannes seine vorläufige Unterbringung fordert, besser sein, ihn zu ignorieren. 
Denn das eine ist klar: tritt der uniformierte Schutzmann vor den Trunkenen hin, 
so wird, namentlich bei ungebildeten Menschen, ein durch den Alkohol ungezügelt 
und reizbar gewordener Charakter leicht zu Beleidigungen, Drohungen und Widerstand 
verschreiten, was alles unterblieben wäre, wenn der Schutzmann nicht eingegriffen 
hätte. Für einen derartigen Anfang und Verlauf von Exzessen gibt es genügende 
Beispiele. Namentlich hüte man sich, einen Beschuldigten, nachdem er sich bereits 
beruhigt und der ganze Exzeß seine Erledigung gefunden hat, wieder zu reizen. 
Ist in solchen Fällen die Ruhe wieder hergestellt, so mögen die Zeugen befragt, der 
aber in der Nachwirkung des Exzesses immer noch unzugängige Beschuldigte mag 
besser am nächsten Tage, wenn er z. B. seinen Rausch ausgeschlafen hat, vernommen 
werden. Ein Glasarbeiter hatte in der Trunkenheit einen Skandal vollführt und 
seine Frau an den Haaren im Hofe herumgezerrt. Als auf erfolgte Meldung die 
Polizei im Hause erschien, hatte der Wüterich sich beruhigt und schlief im Bette 
seinen Branntweinrausch aus. Trotz der Vorstellungen der nun wieder versöhnten 
und um den Ernährer der Familie besorgten Frau schritten Gemeindevorstand, 
Gendarm und Ortspolizeidiener zur Verhaftung des Mannes, der ganz und gar 
nicht fluchtverdächtig war und deshalb nur aus dem — aber nicht vorliegenden — 
Grunde verhaftet werden konnte, daß eine Wiederholung des Exzesses zu befürchten 
stand. Natürlich regte sich des Trunkenen Wut aufs neue; er verschritt zum größten 
Widerstand, so daß er schließlich von den drei Beamten gefesselt nach der Ortszelle 
geführt wurde. Der Amtsrichter konnte natürlich einen Haftgrund nicht finden und 
ließ den ihm zugeführten Mann nach der Vernehmung frei. Den Widerstand hatte 
er aber begangen und mußte ihn büßen, wennschon das Schöffengericht das Ungeschick 
der Polizeibeamten strafmildernd berücksichtigte. Außerdem hatte der Mann, weil 
er einen Tag der Arbeit fern bleiben mußte, seine Stelle verloren. Alle diese 
Schädigungen wären unterblieben, wenn die Polizeibeamten den schlafenden und 
deshalb unschädlichen Mann im Bette ließen. Und selbst wenn sie gemeint hätten, 
der Mann verstelle sich und schlafe gar nicht, so stand doch durch die Angaben der 
Hausbewohner fest, daß der Exzeß schon eine Weile beendet war. Es war zweck- 
mäßiger, eine Wiederholung abzuwarten, als sofort gewaltsam einzugreifen. Solche 
Fälle kennt die Praxis der Schöffengerichte nicht zu wenige. 
Der Schutzmann, der sein Revier abgeht oder auf Posten steht, muß auch 
nicht denken, er habe darauf zu sehen, daß alles sozusagen wie am Schnürchen gehe. 
In Durchführung seines eigenen Dienstes wird ihm bei strenger Selbstkritik oft vor
	        
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