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nisses der benachbarten Niederlande und der Hilfe der „Union“ — jenes
Bündnisses, welches Kurpfalz, gestützt auf Frankreich, mit denjenigen
deutschen Staaten eingegangen war, denen das Luthertum keine genügend
radikale Reformierung schien — und trat, erst vorbehältlich, 1613 aber
vollständig zum Kalvinismus über. Auch letzteres Moment ist für unser
Vaterland nicht ohne Bedeutung, da es den tieferen Grund der Abneigung
bildet, die von jener Zeit an mehrere Menschenalter hindurch, ja länger
zum Unsegen für ganz Deutschland zwischen Brandenburg und Sachsen
gewaltet hat, letzteren Staat aus der bisher innegehabten Vormachtstellung
hinausdrängend. Unwillkürlich trieb die Abneigung gegen das kalvinistische
Brandenburg das lutherische Sachsen in die Arme des katholischen Österreich
und ward so die Hinderung einer kräftigeren Entfaltung des evangelischen
Norddeutschland.))
7!) Zum politischen Schaden gereichte dies dem Staate Sachsen, wie die Tatsachen
zweier Jahrhunderte beweisen, auf jeden Fall. Ob die Lutherische Lehre — die von solchen,
die auf der Seite der Negation stehen, als Orthodoxie bezeichnet wird — sich mit Kalvinismus
und Union hätte verbinden können und verbinden sollen, ist mehr oder weniger eine
Gewissensfrage. Jedenfalls erscheint es auch heutigen Tages als eine ganz direkte
Begünstigung des Unglaubens, wenn alle diejenigen Elemente, die nicht katholisch sind, den
Bekenntnissen der evangelischen Kirchen dadurch gerecht werden wollen, daß sie ihren Haupt-
wert und ihre Hauptaufgabe in der Bekämpfung der katholischen Schwesterkirche erblicken,
anstatt, das Gemeinsame aller wahren Christusgläubigen bedenkend, mit derselben Schulter
an Schulter dem Unglauben und der Christusfeindschaft entgegenzutreten. Denn ein nur
und prinzipiell lediglich vom Protestieren lebender Protestantismus kommt schließlich vom
Protestieren zum Negieren und verliert nur zu leicht den allen wahrhaft christlichen
Konfessionen gemeinsamen Schwerpunkt positiven Bekennens. übe auch die katholische Kirche
christliche Duldung; hüte sie sich, gläubige Elemente der Schwesternkonfessionen zu reizen
und verletze sie nicht, in der überhebung, allein seligmachend zu sein. Dann wird um so
eher der Ausspruch Heinrich von Treitschkes sich in Wirklichkeit umsetzen; „der Tag werde
kommen, da alles, was christlich ist, sich unter ein Banner zusammenscharen muß“". Stahl,
einer der hervorragendsten Führer der verflossenen „kleinen aber mächtigen“ Partei in
Preußen, welcher bedauert, daß wir (nämlich die Evangelischen) das Band, welches uns mit
dem Katholizismus verbindet, vielfach mehr als not tut, aufgegeben haben, sowie Höhler
in seinem Werkchen „Ein Wort zum Frieden“ fußen auf demselben Gedanken. Ganz das-
selbe sprechen Dr. Oberbreier, der verstorbene Professor Rahms, der „Türmer“ von Grothuß
und die Luthardtsche Kirchenzeitung aus. Der jüngsten Gegenwart aber entstammen die
bei der Einweihung eines Lehrerseminars seitens des sächsischen Kultusministers von Seydewitz
gesprochenen Worte: „Die Mitglieder der verschiedenen Konfessionen dürfen es nicht ver-
gessen, daß sie mit der aufrichtigen Liebe und felsenfesten Treue zur eigenen Konfession die
Achtung vor der fremden verbinden, kurz in Frieden leben sollen mit denen, die anderen
Glaubens sind. Das Trennende muß daher mehr in den Hintergrund rücken, das aber,
was uns gemeinsam ist, in den Vordergrund gestellt, hochgehalten, gehegt und gepflegt
werden.“ — Es ist, wie im Jahre 1848 der Kardinal Fürstbischof von Diepenbreoik schrieb,
auch heutzutage „betrüblich, daß man so vielfach die allgemeine Solidarität der gemeinsamen
christlichen Interessen gegenüber dem Umsturze, dem Atheismus und dem Antichristentum
nicht einsieht".
Erscheint einem oder dem anderen der Leser dieser Zeilen diese an den Gegenstand
geknüpfte Betrachtung etwa überflüssig oder zu langatmig, so sei es vergönnt, ganz bescheident-
lich auf Schillers Worte hinzuweisen: „Das ist kein Aufenthalt, was fördert himmelan.“