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von Grotius zuerst aufgeworfene und zur wissenschaftlichen
Diskussion gestellte Frage blieb eine offene und bildete noch
zwei Jahrhunderte hindurch einen Gegenstand literarischer!)
und politischer Fchde. Immer mebhr jedoch näherte sich das
Rechtsbewusstsein der Staaten und Völker der von Grotius
Vertretenen Auffassung von der Freiheit des Meeres. Im
selben Masse, in dem die Wissenschaft mit stets neuen Argu-
menten, auch mit solchen, die uns heute nicht mehr als stich-
haltig erscheinen, in fortschreitender Einmütigkeit das neue
Prinzip vertrat, liessen auch die Staaten teils freiwillig teils
unter dem Druck der Verhältnisse ihre früheren Ansprüche
einen nach dem andern fallen. Am längsten und zähesten
bielt Grossbritannien seine Prätentionen aufrecht, indem es
) Die Litteratur über das Mare liberum findet sich ausführlich
angegeben bei Nau, Grundsätze des Völkerseerechts. Hamb. 1802. 8S 69.
Vergl. auch Calvo, Droit international. 3. Aufl. Bd. I. § 248 fr.
Von den älteren Völkerrechtsschriftstellern, welche diese Frage
ausführlich behandelt haben und trotz einzelner Abweichungen in der
Begründung wie in den Schlussfolgerungen doch sümtlich den Grundsatz
von der Freiheit des Meeres vertreten, sind besonders hervorzuheben:
Cornelius van Bynkershoek, welcher in einer 1702 erschienenen
besonderen Dissertation De Dominio Maris (Opera omnia 1767 Tom. II.
p. 122 sqd.) die Frage in der ihm eigenen scharfsinnigen Weise erörterte.
Seine Ansicht fasst er selbst folgendermassen zusammen (I. c. cap. 7 i. f.:
„Oceanus qua patet, totus imperio subfici non potest; pars potest,
possunt et maria mediterranea, duotquot sunt, omnia. Nullum tamen
mare mediterraneum, neque ulla pars Cccani ditione alicuius Principis
tenetur, nisi qua in continentis sit imperio.“ — Pufendorf, De Jure
Naturae et gentium, lib. 4. cap. 5 § 17; — Wolff, Jus Gentium, §§ 127 fl.
und Vattel, Droit des gens, liv. I. chap. 23 §§. 279—286.
In der neueren Litteratur herrscht über den Grundsatz selbst kein
Streit mehr.