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Für das positive moderne Völkerrecht ist somit
die Frage, ob das offene Meer der Gebietshoheit eines
bestimmten Staates unterworfen sein könne oder
nicht, zweifellos im Sinne des mare liberum entschie-
den. Allein es frägt sich, ob wir vom Standpunkte unserer
modernen Rechtsanschauung mit dem Resultat der nunmehr ab-
geschlossenen Entwickelung auch die naturrechtlichen Grund-
lagen, auf welche die Theorie dasselbe gestützt hat, ohne
weiteres annehmen können. Dass dies nicht möglich ist,
ergiebt sich aus unseren obigen Ausführungen über das
Wesen der staatlichen Gebietshoheit von selbst; denn fast sämt-
liche Schriftsteller, welche seit Grotius und Selden bis in die
neueste Zeit für oder wider die Freiheit des Meeres argumen-
tiert haben, stehen bewusst oder unbewusst noch auf dem
Boden der veralteten, privatrechtlich gefärbten Staatseigen-
tumstheorie und stützen ihre Behauptungen mit den Grund-
Sätzen der privatrechtlichen Eigentumslehre. Aus der Un-
möglichkeit eines privatrechtlich konstruierten Besitzes oder
Eigentums folgern Grotius und seine Nachfolger ohne weiteres
die Unmöglichkeit einer exklusiven staatlichen Herrschaft über
das Meer, die sie sich allerdings nur auf Grund oder wenig-
stens im Zusammenhang mit jenen vorstellen konnten. Nun
haben wir aber geschen, dass Eigentum und Gebietshoheit
trotz mancher Analogie ihrem innersten Wesen nach grund-
verschieden sind. Es wäre also an sich durchaus nicht un-
möglich, dass eine des Eigentums absolut unfühige Sache
nichtsdestoweniger einer staatlichen Gebietshoheit unterworfen