107
—
Akzessionsrechtes erwirbt der Staat von selbst, d. h. ohne dass
es einer Rechtshandlung seinerseits bedürfte, die Gebietshoheit
über solche Landesteile, welche sich durch einen bald allmäh-
lichen bald plötzlichen Naturprozess an oder in seinen Grenz-
gewässern neu gebildet haben. Die einzelnen Fälle derartigen
Gebietszuwachses fallen unter die schon vom römischen Rechte
aufgestellten Rubriken der Anschwemmung (alluvio)t), der
Austrocknung eines Flussbettes (alveus derelictus) 2) und der
Inselbildung (insula nata).
Nur die letztgenannte Art des Gebietserwerbs durch
Akzession ist für das Völkerrecht von einiger Erheblichkeit.
Im allgemeinen bestimmt sich die Gebietshoheit über neu ent-
1) Während im allgemeinen bezüglich des Rechts der alluvio
Uöbereinstimmung herrscht, streiten sich die Schriftsteller darüber, ob
in dem speziellen Falle der avulsio und appulsio von ganzen Stücken
fremden Landes eine Vindikation vonseiten des früheren Besitzers statt-
haft sei. Dafür z. B. Grotius, II, 8. 3. Vattel I. § 268, Heffter § 69,
Hartmann § 61 und Phillimore I. P. 3 Chap. 12. Dag. Günther § 33,
der die Lehre des römischen Rechts als dem Naturrecht widersprechend
verwirft und die Vindikation nur gegenüber dem malae fidei possessor
gestatten will.
Diese ganze Streitfrage ist lediglich aus dem Privatrecht herüber-
genommen und für die grossen Verhältnisse des Völkerrechts von ganz
verschwindender Bedeutung. Praktisch ist dieselbe wohl noch nie ge-
worden. Es fehlt daher die Möglichkeit positiver Entscheidung.
UIber die Rechtsfolgen von natürlichen Veränderungen in Grenz-
flüssen (alluvio, alveus derelictus und insula nata) enthält der Vertrag
zw. öÖsterreich und Preussen v. 9. Februar 1869 (Martens, N. R. G. XX.
S. 301) einige Bestimmungen. S. Bulmerincq, Völkerrecht, § 47. S. 286.
2:) Bei blosser Verengerung des Flussbettes erwirbt jeder Ufer-
staat das auf seiner Seite freigewordene Land. Verlüsst ein Grenzfluss
sein Bett vollständig, so ist die Mittellinie des ausgetrockneten Fluss-
bettes als Grenze anzuschen. Vergl. Ortolan, Des moyens d’acquérir le
domaine international, S. 52 fr.