— 95 —
ihre Minister verlassen und sich von denen leiten lassen, welche Einfluß auf ihren
Geist gewonnen haben.
Die Herrscher der ersten Art sind wie die Seelen ihrer Staaten: die Bürde
ihrer Regierung ruht auf ihnen allein wie die Welt auf dem Rücken des Atlas;
sie leiten die inneren wie äußeren Angelegenheiten; und sie erfüllen zugleich das
Amt der obersten Reichsbehörde, des Generals der Heere, des Großschatzmeisters
Ihre Minister sind eigentlich nur Werkzeuge in der Hand eines weisen und ge-
schickten Meisters.
Die Herrscher der zweiten Art sind durch einen Mangel der Begabung oder
durch eine natürliche Indolenz gewissermaßen in eine lethargische Gleichgültigkeit
versetzt. . . In diesem Falle ist der Herrscher nur eine Scheinfigur, aber eine
notwendige Scheinfigur, denn er repräsentiert den Staat; alles was man wünschen
kann, ist, daß er eine glückliche Wahl treffe
Es gibt Interessenkriege, welche die Könige zu führen genötigt sind, um sich
selbst die Rechte aufrecht zu erhalten, die man ihnen streitig machen will; sie
prozessieren, die Waffen in der Hand, und die Schlachten entscheiden über die
Gültigkeit ihrer Rechte.
Es gibt Vorsichtskriege, welche die Fürsten aus Klugheit unternehmen. Es
sind Angriffskriege, aber sie sind nicht minder gerecht. Wenn die übermäßige Größe
einer Macht über alle Grenzen will und das Universum zu verschlingen droht,
empfiehlt es sich, ihr einen Damm zu setzen, den wilden Lauf eines Stromes auf-
zuhalten, solange man noch Herr darüber ist. Man sieht Wolken, die sich an-
sammeln, ein Gewitter, das sich bildet, die Blitze, die es ankündigen; und wenn
der Fürst, den solche Gefahr bedroht, nicht allein den Sturm beschwören kann,
wird er, wenn er klug ist, sich mit allen denen verbinden, welche die gleiche
drohende Lage dieselben Interessen haben läbt
Es ist also besser, daß ein Fürst sich zu einem Angriffskriege
entschließt, wenn er noch Herr darüber ist, zwischen dem Olzweige
und dem Lorbeerzweige zu wählen, als daß er bis zu der ver-
zweifelten Zeit wartet, wo eine Kriegserklärung seine Kdnecht-
schaft und seinen Untergang nur für einige Augenblicke hinaus-
schieben kann. Es ist besser zuvorzukommen, als sich zuvorkommen
zu lassen
52.
Gründe Friedrichs für seinen Einfall in Schlesien.
1740.
Quelle: Friedrichs des Großen Rechtfertigungsschreiben beim Ein-
fall in Schlesien 1740).
Übersetzung aus dem Abdruck des französischen Textes bei Koser, Politische Korrespondenz Friedrichs des
Großen. Beriin 1879 ff. Bd. 1. S. 159—160.
Die Rechte des Königs auf die meisten Herzogtümer und Fürstentümer
Schlesiens sind unbestreitbar.
Die Besitzer dieses Landes haben darüber selbst so sehr übereingestimmt, daß
sie mit dem Kurfürsten Friedrich Wilhelm einen Vertrag schlossen, durch welchen
1) Dieser und alle folgenden Briefe Friedrichs sind in französischer Sprache geschrieben.