Full text: Wilhelm Heinzes Quellen-Lesebuch zur vaterländischen Geschichte für Lehrerbildungsanstalten und höhere Schulen. Zweiter Teil. Deutsche, vornehmlich brandenburgisch-preußische Geschichte bis 1815. (2)

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zwei Damen gestützt, die Oberhofmeisterin hinter ihr, wankte die flachen Stiegen 
hinab, ihm entgegen. Sowie er sie gewahr wurde, setzte er sich in Galopp, hielt, 
sprang rasch vom Pferde, zog den Hut, umarmte sie, bot ihr den Arm und führte 
sie die Treppe wieder hinauf. Die Flügeltüren gingen zu, alles war verschwunden, 
und noch stand die Menge, entblößten Hauptes, schweigend, alle Augen auf den 
Fleck gerichtet, wo er verschwunden war, und es dauerte eine Weile, bis ein 
jeder sich sammelte und ruhig seines Weges ging. 
Und doch war nichts geschehen! Keine Pracht, kein Feuerwerk, keine Kanonen— 
schüsse, keine Trommeln und Pfeifen, keine Musik, kein vorangegangenes Er- 
eignis! Nein, nur ein 73jähriger Mann, schlecht gekleidet, staubbedeckt, kehrte von 
seinem mühsamen Tagewerk zurück. Aber jeder wußte, daß dieser Alte auch für 
ihn arbeite, daß er sein ganzes Leben an diese Arbeit gesetzt und sie seit 45 Jahren 
noch nicht einen einzigen Tag versäumt hatte! Jedermann sah auch die Früchte 
seiner Arbeiten, nah und fern, rund um sich her, und wenn man auf ihn blickte, 
so regten sich Ehrfurcht, Bewunderung, Stolz, Vertrauen, kurz, alle edleren Ge- 
fühle des Menschen. 
79. 
Joseph II. gewährt Glaubensfreiheit. 
1. Quelle: Ein Schreiben Josephs II. an Maria Theresia. 23. Sept. 1777. 
(Französisch.) 
Übersetzung aus dem Abdrucke des französischen Textes bei Arneth, Maria Theresia und Joschh Ihre 
Korrespondenz samt Briefen Josephs II. an seinen Bruder Leopold. Wien 1867. Bd. 
Teuerste Mutter! Meine Pflicht und der unausgesetzte Eifer, den ich Ihrem 
Dienste und Ihrem Ruhme gewidmet habe, zwingen mich, Ihnen demütigst vor- 
zustellen, daß die Vorschriften, die kürzlich in Bezug auf die Reformierten in 
Mähren erlassen worden sind, und von denen ich Ihnen die Abschrift zu über- 
senden mir gestatte, allen von jeher anerkannten Grundsätzen, welche unsere 
Religion und eine gute Verwaltung und schon der gesunde Menschenverstand 
fordern, so sehr entgegengesetzt sind, daß ich nicht den geringsten Zweifel hege, 
Ihr Scharfblick wird, sobald Sie Kenntnis davon genommen haben, die notwendige 
und auch schnelle Abhilfe zu finden wissen. Kann man sich etwas Abgeschmackteres 
vorstellen, als das, was diese Vorschriften enthalten? Wie, um die Leute zu be- 
kehren, sie zu Soldaten machen, in die Bergwerke schicken, oder zu öffentlichen 
Arbeiten verwenden! Das ist seit den Zeiten der Verfolgungen zu Beginn der 
lutherischen Reformation noch nicht dagewesen; das würde von unberechenbaren 
Folgen sein. Ich fühle mich verpflichtet, auf das entschiedenste zu erklären, und 
ich werde es beweisen, daß, wer auch diese Verordnung erdacht hat, der un- 
würdigste Ihrer Diener ist und folglich ein Mensch, der nur meine Verachtung ver- 
dient, weil er ebenso töricht wie nichtswürdig ist. 
Ich bitte Eure Majestät demütigst, sich in dieser überaus wichtigen An- 
gelegenheit von anderen Personen beraten zu lassen, als die sind, welche solche 
Sachen ersinnen, und indem ich hoffe, daß Euere Majestät durch Aufhebung dieser 
Verordnung schnelle Abhilfe schaffen wird, fühle ich mich gedrungen, gleich- 
zeitig demütigst zu versichern, daß, wenn solche Sachen während meiner Mit- 
regentschaft sich ereignen sollen, Euere Majestät erlauben wird, den meinem
	        
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